Nach und nach füllte sich der Raum, und mit jedem „Gast“, der seinen eher ungemütlichen Platz auf einem der Stühle einnahm, pochte sein Blut lauter in Livys Ohren. Es waren viele – mehrere Dutzend – und der Pflanzenmann musste feststellen, dass sich immer mehr bekannte Gesichter unter die Menge mischten. Offenbar galt es auf Palermo immer noch als Statussymbol, so spät wie möglich zu einem Termin aufzukreuzen, und damit seine eigene Stellung über der des Gastgebers zu betonen. Nichtsdestoweniger waren einige der notorischsten Zuspätkommer ungewohnt pünktlich, was Livy noch weiter verunsicherte – denn wenn selbst solch einflussreiche Persönlichkeiten sich an die Weisung dieses ominösen Veranstalters hielten, wer musste sich dann hinter all dem verbergen?
Unglücklich schielte Livy weiter durch den schmalen Spalt im Boden und beobachtete das Gedränge in dem provisorischen Auktionssaal. Neben Jenzen und einigen ihm mit Namen bekannten anderen Handlangern wichtiger wie unwichtiger Mafia-Familien hatte vor allem der Anblick einer ganz bestimmten Gestalt sein Blut weiter angeheizt: Der hochgewachsene Mann, der sich trotz Augenbinde zielsicher durch die Menge bewegte, fiel allein deshalb auf, weil er als einziger ganz offen die Waffe zur Schau stellte, welche ihm eigentlich am Eingang hätte abgenommen werden müssen. Es handelte sich dabei um ein kunstvoll gearbeitetes Schwert, welches eingewickelt in purpurfarbene Bandagen auf dem schmalen Rücken des Kämpfers prangte. Über diese Waffe, welche auf den klangvollen Namen „Scarletta“ hörte, war vor allem eines bekannt: Wer sie einmal blankgezogen zu Gesicht bekam, dessen Augen würden zu Lebzeiten nichts Anderes mehr erblicken. Offenbar hatte dieses Gerücht ausgereicht, um die Wachen am Tor ihre Pflicht vergessen zu lassen – oder der Kämpfer trug sein Schwert allein deshalb noch, weil es sein Herrchen war, das diese Veranstaltung ins Leben gerufen hatte.
Livy erinnerte sich nur allzu gut an die schmachvollen Tage, die er notgedrungen in seinem muffigen Apartment hatte verbringen müssen, einzig weil er unvorsichtig geworden war. Der Pflanzenmann, damals erst vierzehn oder fünfzehn, hatte seit seiner Ankunft auf Cosa Nostra lediglich kleine Geschäfte überfallen. Boutiquen, Pfandleiher und dergleichen. Die Erlöse aus diesen Streifzügen hatten zwar gereicht, um sich ein anständiges Repertoire an Kleidungsstücken und besagte Wohnung zu erstehen, allerdings war Livy niemand, der sich mit weniger zufrieden gab, als er tatsächlich haben konnte. Es war insofern nur eine Frage der Zeit, bis er sich das erste Mal an einer der zahlreichen Villen versuchte, die einer der Mafiosi der Stadt sein Zuhause nannte. Jener erste Versuch hatte ihn allerdings nicht nur seinen linken Arm gekostet, sondern auch seinen kindlichen Leichtsinn, und keinen Tag später hatte der Pflanzenmann herausgefunden, wo er sich überhaupt eingeschlichen hatte, und wem er die lange Absenz vom Leben der gehobenen Gesellschaft aufgrund seiner Verletzung zu verdanken hatte.
Und ausgerechnet dieser Jemand postierte sich gerade in diesem Augenblick an die Seite des Raumes, direkt vor den Vorhang, und ließ seinen verschleierten Blick über die versammelten Gäste schweifen. Sein Name? Larva, Schwertkämpfer par excellence, Meister des gefürchteten Sanguinosa-Klingenstils, und Lieblingsschoßhund des viertmächtigsten Dons der Insel, Lucio Vercci, auch bekannt unter den Pseudonymen „Charon“ und „Fährmann“. Vercci verfügte zwar nur über ein kleines Territorium am Hafen, weshalb ihm auch nur der undankbare vierte Platz in der Hackordnung der Unterwelt zugesprochen wurde, jedoch wusste jeder Insider, dass der einflussreiche Pate so tief in die Geschäfte jeder anderen Familie eingebunden war, dass bereits manche munkelten, er würde sich der ganzen Insel eines Tages durch einen Putschversuch bemächtigen wollen.
Wie Vercci so einflussreich werden konnte war schnell erklärt: Angefangen hatte alles mit einem kleinen Grundstück am Rande des Hafens, über das seine Familie schon seit drei Generation die absolute Hoheit genoss. Kein einziges Mitglied der offiziellen Hafenverwaltung ließ sich hier blicken, was es den Besitzern ermöglichte, jede Art von Ware per Schiff zollfrei ein- und auszuführen, nach der es die anspruchsvollen Bewohner Palermos gelüstete. Während Verccis Vater mit dieser Macht jedoch nur Luxusgüter vertrieb, was der Familie „lediglich“ einen beachtlichen Platz unter den Händlern der Insel einbrachte, begann der Sohn rasch nach dem unglücklichen Tod des Mannes, an welchem Vercci nicht ganz unschuldig gewesen sein soll, mit dem Handel einer Ressource, die mehr wert war als alles, was die legalen Händler anzubieten hatten: Arbeitskräfte. Rasch entwickelte sich Vercci zur ersten Anlaufstelle desjenigen, der einen Posten zu vergeben hatte, vom einfachen, verschwiegenen Diener, bis hinauf zum blutrünstigen Bodyguard. Damit hatte Vercci praktisch in jeder Familie ihren neuen Besitzern vermeintlich treue Spione, die sich mit ihren geschulten Fähigkeiten unentbehrlich für den jeweiligen Käufer machten. Neben diesem überaus einträglichen Geschäft vermietete Vercci seine allerbesten Männer zudem auch, was die Zahl der Attentate in den letzten Jahren um fast fünfzig Prozent hatte ansteigen lassen.
Ein Händler des Todes, der unglückliche Seelen für ein paar Berry aus ihrem Leben riss und in eine Hölle auf Erden verschiffte – Lucio Vercci trug den Namen „Charon“ wahrlich zu Recht.
Ungewollt fletschte Livy die Zähne, wobei saurer Speichel auf den Holzfußboden tropfte und leise zu zischen begann. Es ergab durchaus einen Sinn: Wer, wenn nicht der Fährmann, würde eine solche Auktion schon veranstalten? Zudem würde niemand daran zweifeln, wenn er behaupten würde, er habe die heutige Hauptattraktion dem verstorbenen Tepes kurz vor dessen Tod abgekauft. Zwar würden einige womöglich mutmaßen, dass Vercci auch zum Ableben des Geistergreises seinen Teil beigetragen haben mochte, um dieses Geschäft etwas schneller abwickeln zu können, doch mit Larva nur einige Meter entfernt würde niemand im Raum es wagen, diese Vermutung laut auszusprechen. Um genau zu sein würden sich die Anwesenden allein wegen dem grimmigen Wächter mit ihren Angeboten geradezu überschlagen – und der Gedanke daran ließ Livy die Nackenhaare zu Berge stehen. Heiße Wut ob dieser widerwärtigen Farce vermischte sich mit Bildern von Haufen über Haufen an Wertgegenständen und Berry, die die Anwesenden mit sich führen mochten. Wenn man genau hinsah – und Livy war mittlerweile ein Experte darin, verstecktes Geld aufzuspüren – konnte man es deutlich sehen: Männer, die sich immer wieder nervös an ihren Händen kratzten, welche zitternd schwarze Koffer umklammerten; verschränkte Arme, die winzige Beulen im Brustbereich eines Sakkos zu verbergen versuchten; und natürlich der obligatorische Aufschneider, der mit ausladenden Bewegungen einen Geldschein aus seiner Jacke fischte, um sich damit seine Zigarre anzuzünden. Manchmal machte es die Beute ihrem Jäger einfach leicht.
Doch nein, Livy war nicht hier, um seine Taschen zu füllen. Ganz davon abgesehen, dass dieses Vorhaben sowieso zum Scheitern verurteilt gewesen wäre: Zu viele kampferprobte Mafiosi waren hier, die die Sache hässlich hätten enden lassen können. Es juckte dem Pflanzenmann zwar in den Fingern, doch seine Aufgabe war etwas anderes. Seine Aufgabe war es, den Namen des grünen Schattens mit Blut aus den dreckigen Mäulern derer zu waschen, die tatsächlich an die Lüge glaubten, welche das Fundament dieser lächerlichen Auktion bildete.
Die glaubten, dass der wahre grüne Schatten heute zum Verkauf stünde.
Allein die Existenz einer solchen Verleumdung trieb Livy beinahe in den Wahnsinn. Kümmerliche, minderwertige Snobs, die in ihren mickrigen Gehirnen davon träumten, ihn, ausgerechnet ihn besitzen zu können! Wofür hatte Livy all die Jahre die lächerlichen Kuhhandel dieser Idioten durchkreuzt, wofür einen Handlanger nach dem anderen zu Staub zermalmt, wofür sich unter dieses Gesindel gemischt? All das zählte doch absolut nichts, wenn eine einzige Lüge, nichts weiter als hohle Worte, seinen Ruf zunichte machen und ihn auf die Ebene eines Sklaven herabzuwürdigen konnte, um den man in geselliger Runde schacherte!
Es kostete ihn einiges an Willenskraft, die zischende Säure, die sich auf den Zungen der Mäuler in seinen Händen gebildet hatte, wieder zu bändigen und notgedrungen herunterzuwürgen. Sobald er entdeckt würde, wären seine Pläne der perfekten Rache für immer zunichte gemacht… Wenn nur endlich dieses verfluchte Auktion beginnen würde!
Die Zeit zog sich grausam in die Länge. Untätig musste der Pflanzenmann zusehen, wie sich der Raum füllte, Larva sein verfluchtes Schwert zur Schau stellte, und sich immer wieder Bewegungen hinter dem Vorhang bemerkbar machten. Mehr und mehr brodelte das Blut in den Adern des Pflanzenmannes. Es hatte ihn noch nie so viel Beherrschung gekostet, nicht seinen Instinkten und Begierden zu folgen und in eine seiner beiden anderen Formen zu wechseln. Seine Mäuler winselten immer lauter, wollten entfesselt werden, sich an den Anwesenden laben. Allein sein Hochmut, der sich krampfhaft an den Wunsch klammerte, den perfekten Abschiedsgruß zu hinterlassen, um seinem Namen für solche widerlichen Schauspielereien für immer entsagen lassen zu können, hielt ihn in der kontrollierten Form der Geschöpfe, die er noch nie zuvor so verabscheut hatte.
Dann war es endlich soweit. Livy hätte vor Freude beinahe aufgelacht, als eine Lampe nach der anderen abgedeckt wurde, um das ehemalige Esszimmer in ein zähes, schummriges Licht zu tauchen. Augenblicklich verstummten die Anwesenden. Türen wurden geschlossen, Vorhänge zugezogen, und auch die Bewegungen hinter dem Vorhang ließen kurz nach, bevor eine hagere Gestalt hinter ihm hervorschlüpfte und der Menge ein breites Lächeln schenkte. Mit diesem verbeugte sie sich auch, und begrüßte die Anwesenden gleichzeitig mit einem langgezogenen „Gooooood Eeeeeeveniiiiiing, Ladiiiiiies… and Gentlemeeeeeen!“, wobei die schimmernde Gel-Tolle, die der Mann zum Berry-Zeichen geformt auf dem Kopf trug, geschmeidig auf und ab wippte. Man wollte ganz offenbar auf Nummer sicher gehen, damit die vermeintlichen Käufer auch zweifellos wussten, welcher Herrschaft sie ihre Gebote anzeigen, und wem sie letzten Endes das Geld in die Hand drücken mussten. Ob diese subtile Suggestion auch außerhalb einer Auktion funktionierte? Nein, soweit würde nicht einmal Livy für ein paar Berry extra gehen.
Nach dem blitzartigen Auftritt und der tiefen Verbeugung, bei der die Tolle leicht den Boden berührte, was manchen Zuschauern ein leises „Oooh“ und „Aaah“ abnötigte, richtete sich der lebendige Strich kerzengerade auf und umfing die Anwesenden mit einer ausschweifenden Armbewegung, wobei sein seidig schimmernder, grell-grüner Anzug leise raschelte. Dann ließ er seinen von einer breiten Sonnenbrille verborgenen Blick durch den Raum gleiten, bevor er erneut seine schrille Stimme erhob:
„Aye, aye, aye, was für ein Publikum, ja, mhm, ja. Ich bin mir sicher, ja ganz sicher sicher, dass einer von ihnen, ja, ihnen, heute den Deal seines und oder ihres Lebens machen wird, oh, ja ja, kanenenenene!“ Ein leises Murmeln erhob sich, doch eine leichte Kopfbewegung des grimmigen Larva genügte, um die Menge wieder zum Schweigen zu bringen. „Jaja, Deal, kanenene. Ich muss schon beipflichten, dass der heutige Deal des Tages jetzt etwas ganz, GANZ Besonderartiges ist, mhm, oh ja, ja. Wer von aus ihnen wird sich hier, heute, jetzt, gleich, sofort, und fast ganz ohne jede-wede Verzögerung diesen Deal, DEAL, unter den fingrigen Nagel reißen, kanene?!“ Unvermittelt drehte der Moderator eine Pirouette, hüpfte von der Bühne, und sauste durch die Sitzreihen. Auch an Jenzen kam er dabei vorbei, welcher ihm ein Bein stellte, doch der Moderator schlug lediglich einen geschickten Purzelbaum und lamentierte weiter, seinen Zeigefinger von Gesicht zu Gesicht hüpfen lassend. „Wird euereiner es sein, oder sie, oder ihr lieben beiden, oder ihr, ihr, ihr, ihr, ihr ihr ihr ihr ihrihrihrihrihrihrihrihrihrihr…uuuhhh KANE!“ Zurück auf der Bühne explodierte der Hämpfling mit diesem Wort beinahe, bevor er sich wieder zu fassen zu bekommen schien und in seine kerzengerade Position zurückehrte. Mit einem Räuspern fuhr er letztlich fort: „Nun, mhm, genug gelangweilwartet, meinen sie, nicht richtig wahr, ja? Nein, ja, ich sehe es in ihren glitzernd-hellen Leuchteaugen, dass sie es genauso sehr nicht verwarten können wie meine selbige Wenigkeit. Denn nun, nun denn, Vorhang… Vorhaaang… Vorhaaaaaang…“
Eine zackige Bewegung. Der Stoff teilte sich, gebar jedoch nichts als Schatten. Ein Käfig war dunkel zu erkennen, darin… Schwärze. Die Zeit schien für alle Anwesenden still zu stehen. Der Moderator, in seiner Ankündigung offenbar eingefroren, hielt seine Hand noch zurück, unterschlug die alles entscheidende Geste. Abermals erhob sich Murmeln, wurde lauter, doch etwas war anders. Ein neues Geräusch unterlegte diesmal den Gedankenaustausch des Publikums.
Ein Knurren.
„ON!“
Ein Lichtblitz durchzuckte die Dunkelheit.
Blieb bestehen.
Erhellte den Käfig.
Und ein teuflisches Fauchen gebot dem Raum Stille.
Grüne Glieder schlugen gegen die eisernen Gitterstäbe. Geifer spritzte umher, ereichte fast die Gäste in der ersten Reihe. Fangzähne bohrten sich in das Metall, versuchten hilflos, das massive Material zu zerstören. Wütend wirbelte die Gestalt in ihrem Käfig umher, so wütend, dass man zuerst nicht erkennen konnte, um was es sich bei der Kreatur eigentlich handelte. Erst, als die Wut über das grelle Licht verebbte, und das Monster sich verzweifelt und geschlagen zu Boden warf, konnten alle Anwesenden sehen, um was es sich handelte.
Ein schlanker, schlangengleicher Körper von tiefem Grün, gesprenkelt mit hellen Dornen. Ein Schwanz, der in braunen Fäden auslief, die unruhig zuckten. Klauen, drei an der Zahl, die dem Geschöpf in unmenschlichen Winkeln vom Leib abstanden. Und ein Kopf, der eigentlich nichts als ein einziges, großes Maul war, und von einer braunen Mähne umrahmt wurde.
Livy, der die ganze Zeit das merkwürdige Spektakel neugierig von seinem Logenplatz oberhalb des Auktionssaals beobachtet hatte, erstarrte. Der Körper… die Merkmale… es gab keinen Zweifel, dass es sich bei diesem Etwas um eine Piranhaia handelte. Um ein entstelltes Exemplar zwar, doch definitiv um eine Piranhaia. Und eine wahrhaft lebendige noch dazu.
Konnte er seinen Augen trauen?
Während die Menschen unter ihm bereits ein Gebot nach dem anderen brüllten, kniete Livy auf und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Eine andere, lebendige Piranhaia… tatsächlich. Keine Show. Kein Trick. Keine Lüge. Hier wurde tatsächlich ein grüner Schatten versteigert. Nicht er, der er tatsächlich hinter den Anschlägen auf die Geschäfte der Mafiawelt Palermos verantwortlich war, sondern… etwas wie er. Genau wie er? Verbarg sich hinter dieser verunstalteten Form auch eine menschliche Gestalt? Nein, das konnte nicht sein, dafür hätte es einer zweiten Teufelsfrucht bedurft, und jeder, der sich mit dieser Thematik auskannte, wusste, dass es keine zwei Früchte derselben Art gab. Aber vielleicht hatte eine andere dieser Pflanze ihr Bewusstsein verliehen? Vielleicht steckte hinter diesem Wesen ja auch ein Mensch, der eine Pflanzenfrucht verspeist hatte? Oder vielleicht war es eine andere Spezies Piranhaia, die von Natur über eine Art Bewusstsein verfügte?
Vielleicht, vielleicht, vielleicht – zum Henker damit!
Im Moment zählte nichts, außer dass Livy, der echte grüne Schatten, in den Besitz dieser Absonderlichkeit kommen musste, und mit ihr endlich auch seinen Namen wiedererlangte.
Es war Zeit für das große Finale.
„Zwei Millionen!“
„Zweieinhalb!“
„Dreieinhalb!“
„Vier, und zwei meiner Schiffe!“
Livy kam nicht umhin, festzustellen, dass ihn die Höhe der Gebote nach und nach wieder beruhigte. Zwar mochte sie wie bereits festgestellt maßgeblich von der Anwesenheit des vermummten Schwertkämpfers ausgehen, jedoch waren die Summen nichtsdestoweniger überaus beachtlich, und ihm, dem wahren grünen Schatten, angemessen. Leider blieb keine Zeit, diesen kleinen Triumph auszukosten, oder auf das höchste Gebot zu warten, das letztlich die Auktion für sich entscheiden würde.
Als die anfängliche Bieterschlacht, ein Schnellfeuer von Summen, langsam an Geschnwindigkeit verlor und die Anwesenden merklich vorsichtiger und taktischer vorzugehen beabsichtigen, schnitt der Pflanzenmann, mittlerweile in Hybridform, einem untersetzten Mann mit Monokel das Wort ab, indem er mit donnernder Stimme von oben in den Raum hineinrief.
„Sechs Mill-…“
„63 Leben!“
So viele Leute hatte Livy auf dem Grundstück zählen können. Es konnte durchaus sein, dass einige Wachen seinem aufmerksamen Blick entgangen waren, doch der Einwurf verlor deshalb nicht an Kraft. Viele der Anwesenden drehten sich hektisch hierhin und dorthin und suchten nach dem, der ihre Existenz zu zahlen bereit war.
Unterdessen ruhten Larvas und die Blicke einiger anderer Krieger bereits auf der Decke, und es wurden Befehle gebellt, man solle den ersten Stock untersuchen.
„Sie alle zusammen sind zwar nicht einmal einen einzigen, müden Berry wert, jedoch…“
Schon klopfte es an der Tür zu dem Zimmer, in dem sich Livy aufhielt. Ohne Probleme war der Hybrid dazu in der Lage, sie mit den zähen Ranken seiner Beine verschlossen zu halten, während seine Lippen weiter an dem schmalen Spalt im Boden klebten.
„…bin ich mir sicher, dass niemand etwas dagegen haben wird, sollte ich dieses Pfand zum Tausch anbieten – immerhin…“
Selbst der ehemals so fröhliche Auktionator mutete mittlerweile völlig außer sich an. Wütend starrte er Larva an, brüllte, er solle sich um den Eindringling kümmern, blieb jedoch selbst an Ort und Stelle verharren. Immer wieder warf er jedoch dem dünnen Faden, an dem vermutlich sein Leben hing, einen gehetzten Blick zu: Dem Geschöpf, das müde und ruhig in seinem Käfig lag. Noch.
„…geht es hier doch einzig und allein…“
Mit einem lauten Donnerschlag gab der Boden unter einem mächtigen Hieb des Pflanzenmannes nach. Holz splitterte, Staub wirbelte auf, und der Schatten einer schlanken Kreatur machte sich für alle Anwesenden sichtbar auf dem Käfig breit. Als sich der Rauch einen Augenaufschlag später gelegt hatte, blickten die versammelten Mafiosi auf eine zweite Pflanze, die sich jenseits der Gitterstäbe ungerührt am Schloss des Käfigs zu schaffen machte. Ein leises Zischen, dann ein Knacken, und das kleine Vorhängeschloss war abgebroche. Mit dem Metallstück in der Hand wechselte Livy betont langsam von seiner Pflanzenform in die des Mannes, den einige der Anwensenden unter dem Namen Livio DeVilles kennengelernt haben mochten. Ranken verformten sich zu schlanken Armen, der spitze Kopf flachte ab, grüne Haare wucherten, weiße Haut blitzte auf, und goldene Augen tauchten aus der grünen Masse hervor.
„…um mich.“
Lapidar warf Livy anschließend das zerbrochene Schloss dem immer noch verwirrten Auktionator zu, der es zuerst fing, dann aber hektisch zwischen den Händen hin und her warf, als würde es glühen, bevor er es letztlich doch fallen ließ. Die Säure auf dem Metall zischte noch immer.
Genüsslich verschlang Livy die Blicke der Anwesenden – Jenzen, dem die Show offenbar gefiel; Larva, der nicht wusste, was er hier und jetzt ohne genaue Befehle seines Herrchens mit dem Eindringling anstellen sollte; und all die unbedeutenden Lakeien, die den wahren grünen Schatten furchtsam aus großen Augen anstarrten. Genüsslich sog Livy als diese Blick in sich auf und labte sich an ihnen, wie es ihm mit keiner anderen Mahlzeit zuvor je möglich gewesen war.
In diesem Augenblick wusste er es. Niemals mehr würde man sich auf Palermo über Livio „Livy“ DeVille, den einzigen, den wahren, grünen Schatten, lustig machen.
Und Livy wusste auch, dass er bis an sein Lebensende dafür kämpfen würde, auf jeder Insel einen solchen Moment auskosten zu dürfen.
Mit festem Griff packte Livy schließlich die Ranke, die noch immer wie leblos auf dem Boden des Käfigs lag. Bei der Berührung des Pflanzenmannes erwachte sie jedoch und schlängelte sich wie von fremder Hand geführt um die Schulter ihres neuen Besitzers, der mit einem leichten Ruck vom Käfig rutschte, die Arme ausbreitete, und sich verbeugte. Ein spitzes Lächeln zierte seine Lippen, als Livy erneut sprach, spitze Zähne zeigend:
„Sayōnara!“
Was anschließend passierte, vollzog sich binnen eines Augenaufschlags. Kurz blitzte Livys Hybridform auf der Bühne auf, als lange Arme sich nach dem Vorhang ausstreckten und ihn erneut zuzogen. Mit ebenjenen Armen hievte sich der Pflanzenmann zudem wieder hinauf in den ersten Stock, wo er, die dort noch verbliebenen Wachen ignorierend, durch eins der lediglich von sperrigem Holz verdeckten Fenster brach. Einige Meter segelte der Hybrid durch die Luft, bevor er das Gitter eines Balkons zu greifen bekam. Mit einem festen Zug kehrte der Pflanzenmann schließlich vielleicht zum letzten Mal in seine Domäne zurück, die Dächer hoch über Palermos.
Ja, nun konnte er wahrlich leichten Herzens die Insel verlassen, wissend, dass sein Name so schnell nicht in Vergessenheit geriete…
Ein berauschendes Gefühl, das selbst dem Pflanzenmann einen verzückten Aufschrei entlockte.