Sie saß da, die Beine hochgezogen, den Kinn auf ihren Knien, vor sich hinstarrend. Die leichte Briese, die das oberflächlich angeschlagene Schiff über das Meer trieb, riss ohne bemerkt zu werden an ihren Haaren, einzig der Geruch des Meeres begleitete sie, als ihre Gedanken weit weg von dem Hier und Jetzt verweilten. „Verdammte Piraten... Nicht besser als tollwütige Hunde! Aber doch haben sie mich gerettet...“ Sie musste ihre Stirn nicht berühren, um das Brandmal zu spüren, der Schmerz, die Erinnerung daran, war da, wie am ersten Tag. Genauso wie das wahnsinnig machende Brennen der Peitschenschläge auf ihrem Rücken, die sie für immer in ihre Haut gegraben haben. Entgegen der Sonne des Tages war ihr Kalt, die Gänsehaut auf ihren entblößten Armen unübersehbar. Ihre Zähne klapperten aufeinander, als ES wieder nach ihr griff. Fast konnte sie spüren, wie das Rad des Schicksals, das sich über sie türmte, langsam wieder zu rollen anfing, drohend sie unter sich zu begraben. Sie würde fliehen, sobald das Schiff den Hafen erreichte verschwinden, wie vorher, wie seit damals, als sie zum ersten Mal in die Speichen des Rades geraten war, um von diesem Herz- und erbarmungslosen etwas auf- und fortgerissen zu werden. „Nein, Nein NEIN, NEIN!“ Sie hatte das Gefühl, dass ihre Schreie, die nie die Oberfläche erreichen sollten, von dem Knarren des Rades, verschluckt wurden, als die Schritte lauter wurden.
„Egal was du von uns nun auch hälst eine Regel gilt sowohl für Piraten, als auch für normale Seefahrer, verärgere niemals den Koch an Bord!“ Der Satz riss sie aus ihrer Erinnerung, so jäh, als hätte jemand sie am Kragen gepackt hochgerissen. Rin blinzelte, ihre Augen noch immer geweitet, die Arme kalt, eingeschlafen, die Gänsehaut sich doch langsam lösend. Es dauerte mehrere Herzschläge, bis sie den Mann, der ihr Gegenüber saß erkannte, sich wiederfand auf dem Schiff, die kühlende Brise und die wärmende Sonne wieder spürte, statt der eisigen, Kälte einer Sturmnacht. Sie schaute auf den Teller voll Rührei, doch war der Hunger von vor wenigen Minuten weg, ihr schien ihr Magen nicht größer als eine Wallnuss zu sein und genauso hart. Sie schaute zu, wie Reed aß, ihren Blick zwischen ihrem Teller und ihm Schweifen lassend. „Aber ich bin es... Nur...“ Ihre Finger schlossen sich um die Gabel, ihr schien ihr Körper weit entfernt zu sein, ein Gefühl als würde sie jemand anderen gehören. Jemanden, der die Gabel füllte und es zu ihrem Mund führte. Der Geschmack des Rühreis vermischte sich mit dem metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund, der dünne Schmerz, als das Essen über die blutige Innenseite ihres Mundes glitt, bevor sie den Bissen hinunter zwang. Ihr Magen knurrte und der zweite Gabel voll Essen folgte dem Ersten, der Bann gebrochen und ihr Hunger so lebendig wie noch vor einer halben Stunde. Für die nächsten Minuten erfüllte nur das Kratzen von Galb auf Porzellan und die Geräusche des Schiffes die Stille zwischen Rin und dem Kapitän, bevor sie die Gabel auf den leeren Teller sinken ließ. Das Schiff war friedlich, hätte sie es nicht besser gewusst, dann hätte sie gedacht, dass nur sie beide alleine auf diesem Schiff waren. „Doch es endet in einem Tag. Verflucht sei er und alle seine herzlosen Schöpfungen...“ Rin schluckte schwer, doch blieb der bittere Geschmack in ihrem Mund zurück, so klebrig wie Teer. Kurz hob sich ihr Blick zu Reed, der gerade sein Essen beendete, bevor sie wieder nach unten glitt, die Arme waren wieder um die Füße, das Gefühl von einer unsichtbaren Masse erdrückt zu werden, wieder da. Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn wieder, als ihr Kopf leer von allen Gedanken war. Zumindest das Zittern war weg, genauso wie die Gänsehaut, doch blieb der Schatten, das unsichtbare Gewicht des Rades über ihr. „Sie sind Piraten, wann werden sie dich fallen lassen? Wie SIE dich fallen ließen? Aber wenn ich gehe, bin ich wieder am Anfang... Ist es nicht besser als zu sterben? Nein...“ Sie wollte ihr entfliehen und gleichzeitig den Piraten genauso, doch führte das Eine unweigerlich zu dem Anderen.
„Sie waren wie ihr. Am Anfang... Dann ließen mich fallen... Nachdem sie mir das angetan haben.“ Sie hatte leise begonnen zu sprechen, doch mit jedem Wort war sie lauter geworden. Ihre Finger fuhren zu ihrer Stirn, die Haare teilend damit die Narbe entblößend. Ihr Blick hatte sich auf Reed gerichtet, längst vergangene, verblasste Wut, Enttäuschung und Schmerz flackerte in ihrem Blick. Ihre Hand sank wieder herab, ihre linke Schulter leicht massierend, das taube Gefühl aus der verletzten Haut unter dem Stoff des Kleides massierend. Die alte Wut, machtlos zu sein, wallte wieder in ihr auf, verblasster als vor einem halben Jahr, als die Wunden noch frisch waren und jede kleinste Bewegung zur Qual gemacht haben.
„Was macht euch anders?“ Die Worte waren anmaßend, doch hatten sie ihre Lippen verlassen, noch bevor sie sie zurück halten konnte.