cf: Royal Vigilantism may change the World
Wie viele Jahre war es nun schon her, seit Livy das letzte Mal über das weite Meer gefahren war? Fünf, vielleicht zehn?
Drei. Es sind erst drei Jahre vergangen, aber es fühlt sich wie eine Ewigkeit, die ich auf dieser verdreckten Insel habe zubringen müssen.
Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sich der Pflanzenmann noch ganz genau daran, wie er als neugieriger Sprössling von vierzehn Jahren den Entschluss gefasst hatte, das kleine und langweilige Sharewood zu verlassen und sein Glück in den blühenden Städten Cosa Nostras zu suchen. Ein florierender Handel und ein schier endloser Fluss von Schwarzgeld, beides fest in der Hand der prestigeträchtigsten Verbrechensorganisationen der Welt, lockten den hungrigen Naivling in dieses vermeintliche Paradies der Genüsse und Gelüste, doch schnell zeigte die Insel ihr wahres, ihr schmutziges Gesicht: Hinter dem schönen Schein verbargen sich nicht nur etliche Möchtegern-Ganoven und Emporkömmlinge ohne jegliches Niveau, sondern auch ein unglaublich personenstarker Pöbel, der unter der Knechtschaft der Mafia verzweifelt sein Leben zu bestreiten versuchte.
Doch als wäre dies nicht genug gewesen, nannten auch noch größere Teufel als der grüne diese Insel ihr Zuhause. Menschen, die mit unnatürlichen Fähigkeiten ihr Territorium verteidigten, und damals sogar auf eine lebendige Pflanze monströs gewirkt hatten; damals, als Livy den Namen „Larva“ zum Beispiel nur hier und da überhört hatte. Die Wirklichkeit war jedoch ein strenger Lehrmeister und bestrafte kurzsichtige Neugier sofort, was jedoch wiederum den Reiz dieser Insel ausmachte: Sicherlich lagen nirgendwo im gesamten West Blue Leben und Tod so dicht beieinander wie auf Cosa Nostra.
Und dennoch, Livy war froh, endlich wieder auf hoher See zu sein, und den Nervenkitzel einer Reise ins Unbekannte zu spüren. Nicht nur, weil er Palermo und ihren Schwestern schlicht überdrüssig war, und auch nicht, weil „Zuhause“ Dutzende um Dutzende an Mafiosi auf einen unvorsichtigen Schritt des Pflanzenmannes warteten. So ungern Livy es sich auch eingestehen mochte, so waren die letzten Stunden auf diesem merkwürdigen Schiff, ach, die gesamten letzten Tage seit seinem Zusammentreffen mit dem getigerten Kapitän einfach die spannendsten und unterhaltsamsten gewesen, die er seit langem hatte erleben dürfen. Tepes’ Tod, die Sache mit meiner Säure, diese lächerliche Auktion und der Kampf mit Jenzen, und Jacobs Auftritt… alles nur wegen ihm.
Still grinste Livy in sich hinein, während er mit den Augen die messerscharfe Linie abfuhr, welche die marineblauen Wogen des West Blues vom weiß gesprenkelten Himmelblau des Firmaments trennte. Dabei genoss er sichtlich die Annehmlichkeiten seines kleinen, privaten Plätzchens: Im Krähennest des hinteren der drei großen Schiffsmasten war Livy nicht nur vor dem Fahrtwind geschützt und hatte eine hervorragende Sicht auf das weite Meer, von dort oben hatte er auch ganz genau beobachten können, wie Cosa Nostra nach und nach am Horizont verschwunden war. Ganz zu schweigen davon, dass ihn hier absolut niemand der kümmerlichen Crewleute störte, die ihm seinen eigentlichen Plan von vor einigen Stunden, einen Besuch beim hiesigen Zimmermann, mit ihren misstrauischen Blicken und gezischten Gesprächen zunichte gemacht hatten. Zwar gab der grüne Schatten grundsätzlich nichts auf das, was die hiesige Unterschicht über ihn dachte, doch im allgemeinen Trubel der Abfahrt war Livy ein Ausflug unter Deck einfach nicht mehr ganz so attraktiv erschienen, wie noch beim seinem Aufbruch zur Treppe am Bug, kurz bevor er auf sein altes neues Haustier getroffen war, welches noch immer seelenruhig um seine Hüfte baumelte und… schnarchte?
In dieser Hinsicht konnte Livy ihm allerdings ausnahmsweise keinen Vorwurf machen, hatte er doch selbst nach dem letzten Trubel an Board, namentlich dem Angriff des alten Glatzkopfs auf den Tigerkönig, dem eigentlichen Ablegen und der Entdeckung des Silberhaars am Horizonts, dessen Abwesenheit Livy mit überraschend gemischten Gefühlen bemerkt hatte, ein kleines Nickerchen gemacht, von dem er erst vor wenigen Minuten erwacht war. Seitdem hatte er sich eigentlich nur gefragt, wie lange seine letzte Schiffsreise nun schon her war, und da dieses Problem ja mittlerweile geklärt war, sprach doch eigentlich nichts mehr gegen einen kleinen Ausflug in die Innereien des schwarzen Schiffes. Die erste Aufregung müsste sich in diesen letzten Stunden eigentlich gelegt, und die Crew sich beruhigt haben. Eigentlich der perfekte Zeitpunkt, um einer etwas permanenteren Lösung als dieser winzigen Aussichtsplattform nachzugehen. Kurzerhand stand Livy auf und griff nach einem Tau in der Nähe, an welchem er sich bis hinunter aufs Deck würde gleiten lassen können.
Fragt sich nur…
„…wo dieser ominöse Zimmermann ist? Könnt ihr mir das sagen?“
Die Augen des Anzugträgers zuckten hin und her, furchtsam darauf bedacht, dem Pflanzenmann nicht in seine zu schauen, als ob ihn der Blick des Teufelsmenschen versteinern würde. Über den Kragen des Mannes, welcher locker in Livys rechter Hand lag, konnte er deutlich das Zittern des Kleinkriminellen spüren. Noch mehr spürte er jedoch die Präsenz zweier Freunde des Kerls, die ebenso ängstlich dabei zusahen, wie ihr Kamerad an einer einfachen Frage scheiterte. Sprachlos waren sie jedoch nicht.
„…niemals auf dieses Schiff lassen sollen.“
„…gehört, dass er eine ganze Familie mitsamt Kindern… kein einziger Tropfen Blut mehr…“
„…Monster.“
Mit einem kräftigen Schlag presste Livy sein Opfer noch ein wenig fester gegen die Wand des langen Korridors. Der kleine Aufschrei des Mannes brachte seine Kollegen zum Schweigen, und verbreiterte Livys Grinsen.
„Nun gut. Wenn ihr nicht reden möchtet, wie wäre es dann, wenn ihr mir den Weg einfach mit einem eurer fleischigen Fingerchen zeigt? Ich brauche nur eine Richtung. Mehr nicht. Wie klingt das?“
Blitzartig schoss die Hand des Mannes nach oben und zeigte den Korridor hinunter. Über sein Stottern hörte der Pflanzenmann dann auch noch etwas von einer „v-v-v-v-orletzten Tür“, womit sich der Mafiosi endlich wieder seine Freiheit zurückverdient hatte. Ängstlich keuchte er auf, als Livy ihn auf die Füße setzte, sich verbeugte, und dann den Flur hinunterzugehen begann. Dabei passierte er auch die beiden anderen Matrosen, und Livy ließ es sich nicht nehmen, kurz nach vorn zu zucken, um die zwei Männer zurückschrecken zu sehen. Von allen drei verabschiedete er sich schließlich mit einem lockeren: „Und so etwas schimpft sich Mafia.“
Als der Pflanzenmann weit genug weg war, um den Inhalt der Tuscheleien des Trios nicht mehr verstehen zu können, fuhr er sich angewidert mit seiner Linken über das glatte Gesicht. Würde jeder seiner Ausflüge unter Deck so enden? Drohungen, Lügen, geflüsterte Beleidigungen? Die Aussicht stieß dem grünen Schatten sauer auf, wobei ihm auch auffiel, dass er noch nie wirklich mit anderen Menschen zusammengelebt hatte. Seine bisherigen Refugien in den Wäldern und auf den Dächern von Sharewood und Palermo waren allesamt etwas abgelegen gewesen, damit auch ja niemand den Schönheitsschlaf des Pflanzenmannes störte, ganz zu schwiegen davon, dass er die Anwesenheit von kümmerlichen Menschen in seiner Nähe auf Dauer schlicht nicht ertrug. Was hatte er sich nur nochmal dabei gedacht, auf diesem Schiff zu bleiben?
Mit einem Seufzen blieb er vor der Tür stehen, die er für sein Ziel hielt, und öffnete sie ohne anzuklopfen. Ein kurzer Rundumblick, und Livy hatte gefunden, wonach er gesucht hatte.
Das Krankenzimmer war ein miefiger kleiner Raum, so wie eigentlich jede Ecke dieses veralteten Kahns. Zwei Betten standen an die hintere Wand gerückt, beide mit weißen Laken bezogen, wohingegen auf den anderen Seiten ein Schreibtisch beziehungsweise ein paar Regale mit etlichen Büchern standen. Zumindest der letzte Anblick ließ Livys Meinung über den Raum etwas steigen: Zu wenig zu lesen würde er sicherlich nicht haben, auch wenn medizinische Fachlektüre nicht unbedingt sein liebstes literarisches Genre darstellte.
Zielsicher flanierte Livy zum einzigen belegten Bett hinüber, auf dem ein breitschultriger Mann mit einer markanten schwarzen Tolle ruhte. Wie Livy trug er keine Schuhe und kein Hemd; stattdessen wurde seine Brust von etlichen Verbänden eingewickelt, die trotz der scheinbar guten Arbeit des hiesigen Arztes an manchen Stellen rot gefärbt war. Welche Art Wunde die ehemals weißen Streifen auch verbergen mochten, sie musste tiefer sein als alles, was der Katzenkönig und der Pflanzenmann von ihrem Kampf davongetragen hatten. Diese Erkenntnis ließ Livys Brauen kurz nach oben wandern, doch die Überraschung hielt nicht lange an. Als er noch zwei Schritte vom Bett entfernt war, trug er bereits wieder sein obligatorisches Lächeln zur Schau.
Nun, genügend Muskeln für den Beruf scheint der gute Mann ja zu haben. Nun denn… Lautstark räusperte sich Livy einmal, zweimal, und ein drittes Mal, doch der schlafende Patient schien seine Bettruhe ein wenig zu ernst zu nehmen. Kurzerhand nahm Livy noch einen Schritt nach vorn, räusperte sich ein letztes Mal, und spuckte dem Schläfer eine kleine Portion Säure auf die linke Schulter. Sofort brummte der Mann, wandte den Kopf, und öffnete schließlich langsam die Augen.
„Na endlich. War das denn so schwer, Meister Zimmermann? Ihr werdet gebraucht, also husch husch, nur keine Müdigkeit vortäuschen. Zuerst wären da zwei Löcher…“
„Wer zur Hölle…?“
Die Frage schnitt Livys kleinen Monolog brüsk ab. Der Pflanzenmann wartete, bis sein Gesprächspartner sich aufgesetzt, ihn angestarrt, große Augen gemacht und dann ein paar misstrauische Blicke abgefeuert hatte, um fortzufahren:
„Ja, ich bin es, richtig. Bravo. Nun, was die beiden Löcher angeht…“
„Wie spät ist es?“
Und schon wieder unterbrach der Mann ihn. Ein drittes Mal, und der Pflanzenmann würde trotz der Bandagen einen handfesteren Tonfall anschlagen.
„Später Nachmittag, früher Abend. Könnten wir jetzt vielleicht…“
„Wo ist Lucky?“
Das reicht. Livy atmete tief ein, hob eine Hand, und wollte den durchtrainierten Kerl, welcher mittlerweile sein Bett zu verlassen versuchte, mit einem Klaps zurückschicken, als er bereits von selbst mit einem schmerzverzerrten Gesicht zurückfiel. Der Schwarzhaarige zischte, sah an sich hinab, befingerte seine Verbände, und nuschelte wütend etwas vor sich hin. Livy verstand von alledem nur ein paar Flüche und einen Namen deutlich genug: Larva.
Der Pflanzenmann grinste. Richtig, der Fuchs hatte ja etwas in die Richtung erwähnt. Von einem Treffen mit dem Vercci-Hund war da die Rede gewesen, das dem Zimmermann wohl nicht gut bekommen war. Mit dem Gespräch erinnerte sich der Grüne auch an den Namen des Mannes.
„Oh, überanstrengt euch bitte nicht, Kie-san. Diese Löcher können sicherlich warten, bis ihr euch von euren Kratzerchen erholt habt. Entschuldigt die Störung.“
Eigentlich hatte es der Pflanzenmann dabei belassen wollen. Seiner vermeintlichen Pflicht, dem Zimmermann zumindest einen kurzen Besuch abzustatten, nachdem er schon nach ihm gefragt hatte, war Genüge getan, und diese stickige Atmosphäre des winzigen Raumes schnürte ihn schon viel zu lange ein. Doch Kie rief ihn keuchend zurück.
„Warte! Verdammt noch mal wa-…ah, Mist! H-hey, Moment!“
Livy blieb kurz stehen, ging dann jedoch weiter und öffnete die Tür.
„Ich sagte warte! Komm schon, mir… argh!“
Hinter dem Pflanzenmann polterte es, und als er sich umdrehte, fand er den schwarzhaarigen Mann auf dem Boden wieder. Ob er wegen seiner Wunde gestürzt war, oder sich seine Beine in den verwickelten Bettlaken verfangen hatten, vermochte er nicht zu sagen; fest stand nur, dass der Zimmermann in seiner neuen Pose, alle Viere von sich gestreckt und den Blick wütend nach oben gerichtet, ziemlich mitleiderregend aussah. Zumindest in den Augen von Personen, die wussten, was Mitleid ist. Livy dagegen nahm das Missgeschick des Mannes zum Anlass für doch noch einen weiteren Kommentar, und ein kleines Kichern, wenn er schon dabei war.
„Nun, wie ich sehe, bringen euch Bandagen anscheinend kein Glück. Vielleicht solltet ihr euch in Zukunft von ihnen fernhalten?“
Die eindeutige Anspielung auf Larva und sein Schwert verwandelten das Gesicht des Mannes kurz in eine überreife Tomate, dann fuhr er mit seinen mühsamen Versuchen fort, sich irgendwie wieder aufzurappeln. Zu Livys Überraschung schaffte er das nach einer Weile sogar, und das, obwohl er in der Zwischenzeit redete.
„Halt den Mund. Ist ja nicht so, als wären wir nicht auch deinetwegen in diesen Schlamassel geraten. Was weißt du schon?“
Nochmals kicherte Livy und beugte sich leicht vor, wie um fragen zu wollen, was am Stehen denn so schwierig sei. „Au contraire, mon frère. Tatsächlich weiß ich ganz genau, wovon ich rede. Als Mann von Welt bin ich dem, der euch… das da angetan hat natürlich schon einmal begegnet. Er wollte mir unbedingt die Hand schütteln, und sie dann sogar behalten.“
Der Zimmermann, halb stehend, halb sitzend, warf Livy kurz einen misstrauischen Blick zu. Er sah auf Livys Hände, die dieser zum Gestikulieren erhoben hatte, das Wort „Aber“ schon beinahe ausgesprochen, als er seinen Mund wieder schloss und stattdessen denselben Blick aufsetzte, den ihm die anderen, niederen Menschen an Board zugeworfen hatten.
Monster.
Der grüne Schatten verschränkte die Arme vor der Brust, musterte sein Gegenüber mit einer Mischung aus Abscheu und Überheblichkeit, und fuhr fort: „Wenn ihr dann endlich wieder steht, könntet ihr dann tun, weshalb man euch an Board geholt hat, anstatt halbtot ins Meer zu werfen, wie jeder Mann mit klarem Verstand ebenso erwogen hätte?“
Die Herausforderung ließ Kie schnauben, und mit einem Ruck drückte er seinen Rücken durch und stand. Halbwegs. Schmerzen standen ihm zwar noch immer ins Gesicht geschrieben, aber hier in diesem Raum gab es sicherlich genügend Mittelchen dagegen. Außerdem, genug Kraft für einen Gegenkommentar hatte der Mann ja schließlich auch noch.
„Natürlich. Immerhin weiß ich ja ganz genau, wieso ich hier bin. Und selbst?“
Livy ließ die Frage im Raum stehen, drehte sich wieder um und öffnete die Tür. Abgewandt erlaubte er sich, sein Lächeln kurz gegen einen emotionslosen Strich auszutauschen, bevor er mit den folgenden Worten aus dem Krankenzimmer verschwand: „Zwei Löcher, eins oben, eins unten. Gebt mir nicht Bescheid, wenn es fertig es. Nichts interessiert mich weniger.“
Am Ende dieser knappen Rede war Livy schon wieder auf halbem Weg durch den Korridor, zurück auf seinen temporären Stammplatz im hinteren Krähennest, so weit von dieser vorlauten Crew entfernt wie möglich. Keiner, der ihm bei dieser Rückkehr begegnete, wurde auch nur kurz angesehen; stattdessen stapfte Livy an den mickrigen Männern vorbei und hielt sie mit einem steinernen Lächeln von sich fern. Er brauchte frische Luft. Dringend. Andernfalls bekäme der Zimmermann wohl noch Arbeit für die nächsten Wochen aufgebrummt.
Wie viele Jahre war es nun schon her, seit Livy das letzte Mal über das weite Meer gefahren war? Fünf, vielleicht zehn?
Drei. Es sind erst drei Jahre vergangen, aber es fühlt sich wie eine Ewigkeit, die ich auf dieser verdreckten Insel habe zubringen müssen.
Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sich der Pflanzenmann noch ganz genau daran, wie er als neugieriger Sprössling von vierzehn Jahren den Entschluss gefasst hatte, das kleine und langweilige Sharewood zu verlassen und sein Glück in den blühenden Städten Cosa Nostras zu suchen. Ein florierender Handel und ein schier endloser Fluss von Schwarzgeld, beides fest in der Hand der prestigeträchtigsten Verbrechensorganisationen der Welt, lockten den hungrigen Naivling in dieses vermeintliche Paradies der Genüsse und Gelüste, doch schnell zeigte die Insel ihr wahres, ihr schmutziges Gesicht: Hinter dem schönen Schein verbargen sich nicht nur etliche Möchtegern-Ganoven und Emporkömmlinge ohne jegliches Niveau, sondern auch ein unglaublich personenstarker Pöbel, der unter der Knechtschaft der Mafia verzweifelt sein Leben zu bestreiten versuchte.
Doch als wäre dies nicht genug gewesen, nannten auch noch größere Teufel als der grüne diese Insel ihr Zuhause. Menschen, die mit unnatürlichen Fähigkeiten ihr Territorium verteidigten, und damals sogar auf eine lebendige Pflanze monströs gewirkt hatten; damals, als Livy den Namen „Larva“ zum Beispiel nur hier und da überhört hatte. Die Wirklichkeit war jedoch ein strenger Lehrmeister und bestrafte kurzsichtige Neugier sofort, was jedoch wiederum den Reiz dieser Insel ausmachte: Sicherlich lagen nirgendwo im gesamten West Blue Leben und Tod so dicht beieinander wie auf Cosa Nostra.
Und dennoch, Livy war froh, endlich wieder auf hoher See zu sein, und den Nervenkitzel einer Reise ins Unbekannte zu spüren. Nicht nur, weil er Palermo und ihren Schwestern schlicht überdrüssig war, und auch nicht, weil „Zuhause“ Dutzende um Dutzende an Mafiosi auf einen unvorsichtigen Schritt des Pflanzenmannes warteten. So ungern Livy es sich auch eingestehen mochte, so waren die letzten Stunden auf diesem merkwürdigen Schiff, ach, die gesamten letzten Tage seit seinem Zusammentreffen mit dem getigerten Kapitän einfach die spannendsten und unterhaltsamsten gewesen, die er seit langem hatte erleben dürfen. Tepes’ Tod, die Sache mit meiner Säure, diese lächerliche Auktion und der Kampf mit Jenzen, und Jacobs Auftritt… alles nur wegen ihm.
Still grinste Livy in sich hinein, während er mit den Augen die messerscharfe Linie abfuhr, welche die marineblauen Wogen des West Blues vom weiß gesprenkelten Himmelblau des Firmaments trennte. Dabei genoss er sichtlich die Annehmlichkeiten seines kleinen, privaten Plätzchens: Im Krähennest des hinteren der drei großen Schiffsmasten war Livy nicht nur vor dem Fahrtwind geschützt und hatte eine hervorragende Sicht auf das weite Meer, von dort oben hatte er auch ganz genau beobachten können, wie Cosa Nostra nach und nach am Horizont verschwunden war. Ganz zu schweigen davon, dass ihn hier absolut niemand der kümmerlichen Crewleute störte, die ihm seinen eigentlichen Plan von vor einigen Stunden, einen Besuch beim hiesigen Zimmermann, mit ihren misstrauischen Blicken und gezischten Gesprächen zunichte gemacht hatten. Zwar gab der grüne Schatten grundsätzlich nichts auf das, was die hiesige Unterschicht über ihn dachte, doch im allgemeinen Trubel der Abfahrt war Livy ein Ausflug unter Deck einfach nicht mehr ganz so attraktiv erschienen, wie noch beim seinem Aufbruch zur Treppe am Bug, kurz bevor er auf sein altes neues Haustier getroffen war, welches noch immer seelenruhig um seine Hüfte baumelte und… schnarchte?
In dieser Hinsicht konnte Livy ihm allerdings ausnahmsweise keinen Vorwurf machen, hatte er doch selbst nach dem letzten Trubel an Board, namentlich dem Angriff des alten Glatzkopfs auf den Tigerkönig, dem eigentlichen Ablegen und der Entdeckung des Silberhaars am Horizonts, dessen Abwesenheit Livy mit überraschend gemischten Gefühlen bemerkt hatte, ein kleines Nickerchen gemacht, von dem er erst vor wenigen Minuten erwacht war. Seitdem hatte er sich eigentlich nur gefragt, wie lange seine letzte Schiffsreise nun schon her war, und da dieses Problem ja mittlerweile geklärt war, sprach doch eigentlich nichts mehr gegen einen kleinen Ausflug in die Innereien des schwarzen Schiffes. Die erste Aufregung müsste sich in diesen letzten Stunden eigentlich gelegt, und die Crew sich beruhigt haben. Eigentlich der perfekte Zeitpunkt, um einer etwas permanenteren Lösung als dieser winzigen Aussichtsplattform nachzugehen. Kurzerhand stand Livy auf und griff nach einem Tau in der Nähe, an welchem er sich bis hinunter aufs Deck würde gleiten lassen können.
Fragt sich nur…
„…wo dieser ominöse Zimmermann ist? Könnt ihr mir das sagen?“
Die Augen des Anzugträgers zuckten hin und her, furchtsam darauf bedacht, dem Pflanzenmann nicht in seine zu schauen, als ob ihn der Blick des Teufelsmenschen versteinern würde. Über den Kragen des Mannes, welcher locker in Livys rechter Hand lag, konnte er deutlich das Zittern des Kleinkriminellen spüren. Noch mehr spürte er jedoch die Präsenz zweier Freunde des Kerls, die ebenso ängstlich dabei zusahen, wie ihr Kamerad an einer einfachen Frage scheiterte. Sprachlos waren sie jedoch nicht.
„…niemals auf dieses Schiff lassen sollen.“
„…gehört, dass er eine ganze Familie mitsamt Kindern… kein einziger Tropfen Blut mehr…“
„…Monster.“
Mit einem kräftigen Schlag presste Livy sein Opfer noch ein wenig fester gegen die Wand des langen Korridors. Der kleine Aufschrei des Mannes brachte seine Kollegen zum Schweigen, und verbreiterte Livys Grinsen.
„Nun gut. Wenn ihr nicht reden möchtet, wie wäre es dann, wenn ihr mir den Weg einfach mit einem eurer fleischigen Fingerchen zeigt? Ich brauche nur eine Richtung. Mehr nicht. Wie klingt das?“
Blitzartig schoss die Hand des Mannes nach oben und zeigte den Korridor hinunter. Über sein Stottern hörte der Pflanzenmann dann auch noch etwas von einer „v-v-v-v-orletzten Tür“, womit sich der Mafiosi endlich wieder seine Freiheit zurückverdient hatte. Ängstlich keuchte er auf, als Livy ihn auf die Füße setzte, sich verbeugte, und dann den Flur hinunterzugehen begann. Dabei passierte er auch die beiden anderen Matrosen, und Livy ließ es sich nicht nehmen, kurz nach vorn zu zucken, um die zwei Männer zurückschrecken zu sehen. Von allen drei verabschiedete er sich schließlich mit einem lockeren: „Und so etwas schimpft sich Mafia.“
Als der Pflanzenmann weit genug weg war, um den Inhalt der Tuscheleien des Trios nicht mehr verstehen zu können, fuhr er sich angewidert mit seiner Linken über das glatte Gesicht. Würde jeder seiner Ausflüge unter Deck so enden? Drohungen, Lügen, geflüsterte Beleidigungen? Die Aussicht stieß dem grünen Schatten sauer auf, wobei ihm auch auffiel, dass er noch nie wirklich mit anderen Menschen zusammengelebt hatte. Seine bisherigen Refugien in den Wäldern und auf den Dächern von Sharewood und Palermo waren allesamt etwas abgelegen gewesen, damit auch ja niemand den Schönheitsschlaf des Pflanzenmannes störte, ganz zu schwiegen davon, dass er die Anwesenheit von kümmerlichen Menschen in seiner Nähe auf Dauer schlicht nicht ertrug. Was hatte er sich nur nochmal dabei gedacht, auf diesem Schiff zu bleiben?
Mit einem Seufzen blieb er vor der Tür stehen, die er für sein Ziel hielt, und öffnete sie ohne anzuklopfen. Ein kurzer Rundumblick, und Livy hatte gefunden, wonach er gesucht hatte.
Das Krankenzimmer war ein miefiger kleiner Raum, so wie eigentlich jede Ecke dieses veralteten Kahns. Zwei Betten standen an die hintere Wand gerückt, beide mit weißen Laken bezogen, wohingegen auf den anderen Seiten ein Schreibtisch beziehungsweise ein paar Regale mit etlichen Büchern standen. Zumindest der letzte Anblick ließ Livys Meinung über den Raum etwas steigen: Zu wenig zu lesen würde er sicherlich nicht haben, auch wenn medizinische Fachlektüre nicht unbedingt sein liebstes literarisches Genre darstellte.
Zielsicher flanierte Livy zum einzigen belegten Bett hinüber, auf dem ein breitschultriger Mann mit einer markanten schwarzen Tolle ruhte. Wie Livy trug er keine Schuhe und kein Hemd; stattdessen wurde seine Brust von etlichen Verbänden eingewickelt, die trotz der scheinbar guten Arbeit des hiesigen Arztes an manchen Stellen rot gefärbt war. Welche Art Wunde die ehemals weißen Streifen auch verbergen mochten, sie musste tiefer sein als alles, was der Katzenkönig und der Pflanzenmann von ihrem Kampf davongetragen hatten. Diese Erkenntnis ließ Livys Brauen kurz nach oben wandern, doch die Überraschung hielt nicht lange an. Als er noch zwei Schritte vom Bett entfernt war, trug er bereits wieder sein obligatorisches Lächeln zur Schau.
Nun, genügend Muskeln für den Beruf scheint der gute Mann ja zu haben. Nun denn… Lautstark räusperte sich Livy einmal, zweimal, und ein drittes Mal, doch der schlafende Patient schien seine Bettruhe ein wenig zu ernst zu nehmen. Kurzerhand nahm Livy noch einen Schritt nach vorn, räusperte sich ein letztes Mal, und spuckte dem Schläfer eine kleine Portion Säure auf die linke Schulter. Sofort brummte der Mann, wandte den Kopf, und öffnete schließlich langsam die Augen.
„Na endlich. War das denn so schwer, Meister Zimmermann? Ihr werdet gebraucht, also husch husch, nur keine Müdigkeit vortäuschen. Zuerst wären da zwei Löcher…“
„Wer zur Hölle…?“
Die Frage schnitt Livys kleinen Monolog brüsk ab. Der Pflanzenmann wartete, bis sein Gesprächspartner sich aufgesetzt, ihn angestarrt, große Augen gemacht und dann ein paar misstrauische Blicke abgefeuert hatte, um fortzufahren:
„Ja, ich bin es, richtig. Bravo. Nun, was die beiden Löcher angeht…“
„Wie spät ist es?“
Und schon wieder unterbrach der Mann ihn. Ein drittes Mal, und der Pflanzenmann würde trotz der Bandagen einen handfesteren Tonfall anschlagen.
„Später Nachmittag, früher Abend. Könnten wir jetzt vielleicht…“
„Wo ist Lucky?“
Das reicht. Livy atmete tief ein, hob eine Hand, und wollte den durchtrainierten Kerl, welcher mittlerweile sein Bett zu verlassen versuchte, mit einem Klaps zurückschicken, als er bereits von selbst mit einem schmerzverzerrten Gesicht zurückfiel. Der Schwarzhaarige zischte, sah an sich hinab, befingerte seine Verbände, und nuschelte wütend etwas vor sich hin. Livy verstand von alledem nur ein paar Flüche und einen Namen deutlich genug: Larva.
Der Pflanzenmann grinste. Richtig, der Fuchs hatte ja etwas in die Richtung erwähnt. Von einem Treffen mit dem Vercci-Hund war da die Rede gewesen, das dem Zimmermann wohl nicht gut bekommen war. Mit dem Gespräch erinnerte sich der Grüne auch an den Namen des Mannes.
„Oh, überanstrengt euch bitte nicht, Kie-san. Diese Löcher können sicherlich warten, bis ihr euch von euren Kratzerchen erholt habt. Entschuldigt die Störung.“
Eigentlich hatte es der Pflanzenmann dabei belassen wollen. Seiner vermeintlichen Pflicht, dem Zimmermann zumindest einen kurzen Besuch abzustatten, nachdem er schon nach ihm gefragt hatte, war Genüge getan, und diese stickige Atmosphäre des winzigen Raumes schnürte ihn schon viel zu lange ein. Doch Kie rief ihn keuchend zurück.
„Warte! Verdammt noch mal wa-…ah, Mist! H-hey, Moment!“
Livy blieb kurz stehen, ging dann jedoch weiter und öffnete die Tür.
„Ich sagte warte! Komm schon, mir… argh!“
Hinter dem Pflanzenmann polterte es, und als er sich umdrehte, fand er den schwarzhaarigen Mann auf dem Boden wieder. Ob er wegen seiner Wunde gestürzt war, oder sich seine Beine in den verwickelten Bettlaken verfangen hatten, vermochte er nicht zu sagen; fest stand nur, dass der Zimmermann in seiner neuen Pose, alle Viere von sich gestreckt und den Blick wütend nach oben gerichtet, ziemlich mitleiderregend aussah. Zumindest in den Augen von Personen, die wussten, was Mitleid ist. Livy dagegen nahm das Missgeschick des Mannes zum Anlass für doch noch einen weiteren Kommentar, und ein kleines Kichern, wenn er schon dabei war.
„Nun, wie ich sehe, bringen euch Bandagen anscheinend kein Glück. Vielleicht solltet ihr euch in Zukunft von ihnen fernhalten?“
Die eindeutige Anspielung auf Larva und sein Schwert verwandelten das Gesicht des Mannes kurz in eine überreife Tomate, dann fuhr er mit seinen mühsamen Versuchen fort, sich irgendwie wieder aufzurappeln. Zu Livys Überraschung schaffte er das nach einer Weile sogar, und das, obwohl er in der Zwischenzeit redete.
„Halt den Mund. Ist ja nicht so, als wären wir nicht auch deinetwegen in diesen Schlamassel geraten. Was weißt du schon?“
Nochmals kicherte Livy und beugte sich leicht vor, wie um fragen zu wollen, was am Stehen denn so schwierig sei. „Au contraire, mon frère. Tatsächlich weiß ich ganz genau, wovon ich rede. Als Mann von Welt bin ich dem, der euch… das da angetan hat natürlich schon einmal begegnet. Er wollte mir unbedingt die Hand schütteln, und sie dann sogar behalten.“
Der Zimmermann, halb stehend, halb sitzend, warf Livy kurz einen misstrauischen Blick zu. Er sah auf Livys Hände, die dieser zum Gestikulieren erhoben hatte, das Wort „Aber“ schon beinahe ausgesprochen, als er seinen Mund wieder schloss und stattdessen denselben Blick aufsetzte, den ihm die anderen, niederen Menschen an Board zugeworfen hatten.
Monster.
Der grüne Schatten verschränkte die Arme vor der Brust, musterte sein Gegenüber mit einer Mischung aus Abscheu und Überheblichkeit, und fuhr fort: „Wenn ihr dann endlich wieder steht, könntet ihr dann tun, weshalb man euch an Board geholt hat, anstatt halbtot ins Meer zu werfen, wie jeder Mann mit klarem Verstand ebenso erwogen hätte?“
Die Herausforderung ließ Kie schnauben, und mit einem Ruck drückte er seinen Rücken durch und stand. Halbwegs. Schmerzen standen ihm zwar noch immer ins Gesicht geschrieben, aber hier in diesem Raum gab es sicherlich genügend Mittelchen dagegen. Außerdem, genug Kraft für einen Gegenkommentar hatte der Mann ja schließlich auch noch.
„Natürlich. Immerhin weiß ich ja ganz genau, wieso ich hier bin. Und selbst?“
Livy ließ die Frage im Raum stehen, drehte sich wieder um und öffnete die Tür. Abgewandt erlaubte er sich, sein Lächeln kurz gegen einen emotionslosen Strich auszutauschen, bevor er mit den folgenden Worten aus dem Krankenzimmer verschwand: „Zwei Löcher, eins oben, eins unten. Gebt mir nicht Bescheid, wenn es fertig es. Nichts interessiert mich weniger.“
Am Ende dieser knappen Rede war Livy schon wieder auf halbem Weg durch den Korridor, zurück auf seinen temporären Stammplatz im hinteren Krähennest, so weit von dieser vorlauten Crew entfernt wie möglich. Keiner, der ihm bei dieser Rückkehr begegnete, wurde auch nur kurz angesehen; stattdessen stapfte Livy an den mickrigen Männern vorbei und hielt sie mit einem steinernen Lächeln von sich fern. Er brauchte frische Luft. Dringend. Andernfalls bekäme der Zimmermann wohl noch Arbeit für die nächsten Wochen aufgebrummt.