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1. Bittersüße Rache und ein kleines Extra

Greed

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Als die Sonne ihr strahlendes Haupt über die weitläufigen Sumpflandschaften der Insel Chientranh erhob, war ein junger Mann, in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt und mit der Kapuze tief in sein Gesicht gezogen, sodass kaum mehr als ein von gelblichen Zähnen geprägtes Lächeln zu sehen war, schon seit einer Weile auf den Beinen und unterwegs. Generell schätzte er die Dunkelheit wesentlich mehr als das Licht und jetzt, wo die Zeit der Dämmerung schon beinahe wieder vorbei war, war ihm eigentlich danach, sich wieder in sein ruhiges Versteck zurückzuziehen, doch heute hatte er Pläne, die es wohl oder übel erforderten, dass er sich zum ersten Mal seit einer Woche wieder unter Menschen begab, statt nur des Nachts bei ihnen in ihre Häuser zu klettern und sich etwas zu essen oder Kleidung zu stehlen. Nein, er hatte sich genug ausgeruht, er hatte sich gut genährt, hatte seinen Körper wieder auf Vordermann gebracht und sich halbwegs passend eingekleidet, doch irgendwann würden die kleinen Diebstähle in allen Teilen des Dorfes noch auffallen und dann wollte er nicht mehr unbedingt hier sein. Zudem führten ihn seine Ziele sowieso in das andere Dorf auf dieser Insel und so lag nichts näher, als bald seinen Aufbruch in Angriff zu nehmen. Mit einem Arm an der Stirn, um seine Augen vor der tief stehenden Sonne zu schützen, die immer wieder durch die Wipfel der Mangroven blitzte und gegen die selbst seine dunkle Brille keinen besonderen Schutz bot, machte er seinen Weg über einen morgendlichen Markt und ließ seinen aufmerksamen Blick über die Anwesenden wandern. Die meisten dieser Gestalten waren ihm fremd, doch das ein oder andere Antlitz glaubte er von kleineren Erkundungstouren wiederzuerkennen. Eigentlich waren die Einwohner Staminhs und die Leute aus Hochinh, zumindest so, wie er sie in Erinnerung hatte, gar nicht so verschieden. Wie zwei Seiten derselben Münze lebten sie ein ähnliches Leben und pflegten auch ähnliche Gewohnheiten und Umgangsformen. Tatsächlich konnte er sich selbst in diesem fremden Dorf fast wie daheim fühlen, nur dass man eben anders mit ihm umging, da er offenbar ein Fremder war und obgleich er eine Geschichte erzählen konnte, wenn er gefragt wurde, war es ihm lieber, den Kontakt zu meiden, damit er nicht mehr Aufmerksamkeit als irgend notwendig auf sich ziehen würde. Vermutlich wäre er schneller tot, als dass er „Chietranh“ sagen könnte, wenn hier bekannt werden würde, wer er wirklich war, doch dazu sollte es ja ohnehin nicht kommen, denn wenn alles gut lief, würde er ja schon am nächsten Tag wieder verschwunden sein und einem verschwundenen Fremden weinte niemand eine Träne nach.
Doch bevor er wirklich aufbrechen konnte, gab es noch die eine oder andere wichtige Kleinigkeit zu erledigen. Für das, was er vorhatte, würde er Hilfe brauchen und dafür würde er nicht irgendwelche Amateure engagieren, deren Loyalität man sich nicht sicher sein konnte und vor allem Menschen mit der letzten Eigenschaft waren auf dieser konfliktgeplagten Insel wahrlich schwer zu finden. Allerdings war er nun eben nach diesen seltenen Individuen auf der Suche, damit er sein Vorhaben überhaupt in die Tat umsetzen könnte. Der Mann, der früher auf den Namen Jin Chadao gehört hatte, war sogar bereit, noch Wochen oder Monate zu warten, nach all den Jahren würden sie nicht mehr als ein wenig Sumpfgas im Wind sein und wenn erst einmal alles in Bewegung gesetzt war, würde ein Sturm losbrechen, da war sich der junge Mann sicher. Sorgsam scannten seine Augen die Umgebung, doch bis jetzt gab es nichts und niemanden, die aus der grauen Masse herausstachen, niemanden, der seine besondere Aufmerksamkeit verdiente, was entweder daran lag, dass es niemanden gab oder dass ein Jemand besonders talentiert war und seine Aufmerksamkeit umso mehr verdiente.
Für einen Moment wanderte Jins Blick hinauf auf die Dächer, nur um nicht allzu weit eine vertraute Gestalt zu erkennen, die einzige vertraute Gestalt in diesem Areal, wenn sie auch keinem Menschen gehörte, sondern einem Tier, doch schnell senkte er den Kopf wieder, da ihn das grelle Licht zu sehr in den Augen stach. Der Rattagei, der auf den Namen Perry hörte, hatte sich über den Menschen platziert und ließ ebenfalls seine Blicke schweifen, auch wenn ihn die Menschen gerade relativ wenig interessierten. Eigentlich war er sehr viel mehr an irgendwelchen Früchten oder Ratten interessiert, die er sich für ein morgendlichen Mahl einverleiben könnte, doch war er auch bereit, falls sein guter humanoider Freund ihn um einen Gefallen bitten würde.
Der Sohn des Chefs von Hochinh entschloss sich, den Menschen und der Sonne fürs Erste aus dem Weg zu gehen und das Treiben vorerst aus einer angenehmeren Position zu betrachten. Deswegen zog er sich in eine Gasse zurück, in der durch die Häuserwände vor der Sonne geschützt war und deren Schattenwurf ihn auch halbwegs vor den neugierigen Blicken von anderen verbarg, der dunklen Kleidung sei Dank. Nun lag er wie ein Tiger auf der Lauer. Wartend. Stets wachsam, ob ein Objekt oder eher eine Person seiner Begierde in sein Radar geraten würde, sodass er dann zuschnappen könnte. Ein gieriges Funkeln stand in seinen gelben Pupillen, doch hinter der dunklen Brille war dies kaum zu sehen. Seine Zeit würde sicher bald gekommen sein.
 

Leni

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Egal, ob in der Steppe, dem Dschungel oder der Tundra – irgendwann passierte es, dass der Hunger zwei Raubtiere dazu anpeitschte dasselbe, unglückliche Beutetier anzupeilen und zu jagen. Es war eine äußerst spannende Situation, denn niemand konnte in die Zukunft sehen und sagen, wie zwei Predatoren reagierten, wenn sich ihre blutrünstigen Blicke trafen. Vielleicht vereinbarten sie trotz der Hitze des Moments einen Pakt, der nur mit den Augen besiegelt wurde und der dem armen Gejagten die letzten Chancen auf Entkommen nahmen. Aber vielleicht war ihnen auch nicht nach brüderlichem Teilen und sie würden alles tun, um sich gegenseitig im Weg zu stehen, was der Beute natürlich immens gefallen würde. Auf dem Marktplatz in Hochinh kreisten zwei dieser hungrigen Bestien, unwissend vom gierigen Blick des anderen Tigers, umeinander und um potentielle Beute.
Leni war schon früh aufgestanden, hatte die Schläfrigkeit der Verkäufer und die Dämmerung der weichenden Nacht dazu genutzt sich taktisch in Position zu bringen. In einem Moment der Unachtsamkeit seitens des Verkäufers eines stets gut besuchten Standes, huschte die Minh flink wie eine Katze unter die Ausstellfläche. Dieser Hohlraum unter dem Tisch war mit Decken verkleidet und bot wortwörtlich eine gute Deckung. Gleichzeitig waren viele Geldbeutel auf Augenhöhe und auch die Kasse des Verkäufers könnte im Falle einer Enttarnung blitzschnell gegriffen werden. Durch einen kleinen Spalt im Vorhang beobachtete die junge Frau das Geschehen. Noch war das Marktleben nicht auf Hochtouren, weswegen sich noch dezent zurückgehalten wurde, was das Stibitzen anging. Das nicht allzu weit entfernt ein Mann in einer Gasse rumlungerte und ebenfalls die Menschenmenge musterte, fiel ihr nicht auf. Was ihr aber auffiel, war ein Rattagei, der mit schier unendlichem Selbstbewusstsein hoch über dem Gassenmann thronte und Leni bedrohlich durch die Augen und direkt in die Seele starrte. Dieser Rattagei… er wusste zu viel! Aber wie kam die Minh hier nun wieder raus ohne eine Szene zu machen und dann auf einer Anklagebank zu sitzen, wo ein Vogel sie verrät. „Diebin, Diebin!“, würde er krächzen und keiner würde sich wundern, warum diese Mistviecher auf einmal so moralbewusst geworden sind. War das hier etwa ihr Ende? Musste die Waffennärrin die Pistole aus ihrer Unterhose ziehen und sich so lange gegen die Schläfe halten, bis sie den nötigen Mut aufgebracht hatte? Nein, das konnte nicht die Lösung sein…
Ihr Herz schlug wie wild. Sie schwitzte mehr als andere Leute, die sich bei diesem Wetter hinter einer Wand aus Decken versteckten.
Eines stand fest: Das Federvieh musste sterben bevor sich seine kalten, seelenlosen Klauen in Richtung der Polizeiglocke bewegten. Deswegen rollte Leni sich nun auch geschickt unter dem Stand raus. Sie murmelte etwas, was nicht einmal der Verkäufer verstand, der sich kurz nachdem sie ins Freie gerollt war, umgedreht hatte und verdutzt dreinblickte, weil da eine merkwürdige Frau im Dreck vor seinem Laden lag. Vor lauter Verwirrung dachte er nicht einmal dran, dass hier eine Diebin vor ihm herumgestikulierte.
„Ok. Gut geklärt!“, dachte die Frau und drehte sich in Richtung der Gasse. Das verfluchte Miststück folgte immer noch dem blonden Antlitz bis sie schließlich am Gassenmann vorbeiging. Er wurde übrigens mit einem höflichen Tippen an den Helm begrüßt, um keine weitere Aufmerksamkeit zu erhaschen. Kaum hatte sich der Blick von ihr gelöst, begann sie an der Fassade hinaufzuklettern, denn einfach erschießen war hier nicht drin. Wenn ein Rattagei auf offener Straße einfach hingerichtet wurde, dann würden die besorgten Bürger des Dorfes sicherlich wissen, dass er ein dunkles Geheimnis getragen hatte, welches der Schützin anlastete. Sie wollte ihn stattdessen einfach greifen, am Hals, und dann das Genick verdrehen bevor ein Ton herauskam. Ein brillanter Plan!
 

Greed

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Tatsächlich hätte Jin nicht damit gerechnet, dass er direkt am ersten Tag seiner gezielten Suche nach Gehilfen fündig werden würde, da die dafür infrage kommenden Individuen doch relativ rar waren. Natürlich hatte er es sich gewünschte, es war immerhin kostbare Zeit, die auf diese Suche aufgewendet wurde und Zeit war Geld, war es schon immer gewesen. Doch er hätte sich niemals die Art von Person träumen lassen, die ihm dann an diesem Tag über den Weg lief, deswegen schaute er der jungen Frau, die in der dunklen Gasse an ihm vorbei marschierte leicht verdutzt hinterher, denn eine solche Gestalt hatte er in diesem Dorf noch nie gesehen. Es war normalerweise nicht üblich, dass hier dreckige Soldaten, die durchaus auch mal weiblichen Geschlechts sein konnten, einfach am helllichten Tage mitten durch die Stadt gingen, vor allem nicht so nonchalant. Manches davon basierte auf den Beobachtungen, die er in den letzten Tagen getätigt hatte, manches war auch einfach nur eine Erinnerungen an Geschichten aus seinen Kindheitstagen, in denen die heimgekehrten Soldaten über die Bestien aus Staminh berichteten, jenen, welche die Feuerwaffen einer blanken Klinge vorzogen, um ihre Feinde feige aus der Distanz zu ermorden. Doch nachdem er auch nur wenige Tage an diesem Ort verbracht hatte, den er sich in seiner Jugend immer nur in seinen Träumen als grausamen Ort, einer Hölle nicht unähnlich, vorgestellt hatte, konnte er nicht umhin, einzugestehen, dass diese Leute hier denen in Hochinh gar nicht so unähnlich waren… So viele von ihnen waren so ähnlich drauf wie die Leute, die er von früher kannte und doch hassten sie sich gegenseitig so sehr… es erschien ihm jetzt irgendwie unverständlich, auch wenn ihm klar war, dass er vermutlich noch immer so denken würde, wenn er weiter normal unter der Obhut seines Vaters aufgewachsen wäre. Allesamt waren sie engstirnig, stur und bekloppt, allesamt! Doch was kümmerte ihn das noch, sein Entschluss, dieser Insel und diesem Leben den Rücken zu kehren war schon vor vielen Jahren gefallen und es würde nichts geben, das ihn jetzt noch davon abhalten könnte.
Der Blick des jungen Mannes folgte dem seltsamen Mädchen, das soeben in der Gasse an ihm vorbeigegangen war und nun scheinbar die Fassade eines der Häuser hinaufkletterte… Jin wagte kaum seinen Augen zu trauen. Warum tat sie so etwas? Neugierig schaute der Sprössling des Hochinh-Chefs der immer höher kletternden Soldatin hinterher und musste sich dann eingestehen, dass sie durchaus sein Interesse geweckt hatte. Er mochte ihre Beweggründe nun wahrlich nicht verstehen, doch wie sollte er das auch, wenn er nicht einmal wusste, warum sie nun auf das Dach kletterte? Da gab es nur einen Weg, das herauszufinden, doch direkt hinter der Unbekannten wollte der Vierling nun auch nicht her klettern, das wäre dann doch ein kleines bisschen zu auffällig. Mit schnellen Schritten bog Jin um zwei Ecken und begann dann dort, in einer ähnlichen dunklen Gasse ebenfalls seinen Aufstieg. Nach der Richtung, die die Fassadenkletterin eingeschlagen hatte, würde er von seiner neuen Position hoffentlich recht gut erkennen können, was sie vorhatte und wo es sie hinführen würde. Es war nicht schwer, das Klettern war er gewohnt, auch wenn es an den glatten Fassaden dieser Häuser nicht unbedingt so leicht war wie an der Rinde der Sumpfmangroven, doch nichtsdestotrotz stellte die geringe Anzahl an Höhenmetern selbst an senkrechter Wand kein allzu großes Hindernis für den geschickten Mann dar. Schnell war er oben und erkannte, dass auch die junge Frau schon längst ihren Weg aufs Dach gefunden hatte. Die gelben Augen, die gerade so über den Rand des Daches hinweg schauten, scannten die Umgebung nach dem potenziellen Ziel einer Soldatin, doch sie mochten einfach nichts Außergewöhnliches erkennen, hier und da lag ein wenig Müll, den jemand scheinbar einfach unbesorgt auf dem Dach eines anderen Gebäudes entsorgt hatte, ansonsten war hier absolut nichts, mal abgesehen von einem recht netten Ausblick über das Dorf bis zu den angrenzenden Sumpfgebieten. Ein großer Haufen Nichts und ein kleiner Rattagei, der schon lange den Kopf gedreht hatte und die Soldatin aus seinen großen, wissenden Augen anstarrte.
Er wusste genau, was sie getan hatte. Er wusste genau, wer sie war und wo sie herkam und was sie tun wollte. Er wusste genau, was nun zu tun war. Zumindest machte er den Anschein. Die Anordnung der Augen an seinem Kopf und das daraus resultierende Sichtfeld hatten ihm verraten, dass sein guter Freund und Kumpane ebenfalls den Weg auf das Dach gesucht hatte und Perry wusste genau, wohin er gleich fliegen wollte, denn er mochte etwas vielversprechendes gesehen haben.
Auch Jin hatte seinen gefiederten Freund entdeckt. Er hatte gewusst, dass er hier auf dem Dach gehockt hatte, doch wurde ihm erst jetzt bewusst, dass sich der Vogel scheinbar direkt im Visier der Frau befand… Sie hatte doch nicht etwa vor…
 

Leni

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Eine Camokonda war ein mächtiges Tier und kam auf dieser Insel häufiger vor. Die Schlange wurde oftmals von Leni, die zu der Zeit wahrscheinlich selbst auf der Lauer lag, beobachtet, wie sie mit langsamen, scheinbar unübersehbaren Bewegungen dennoch ans Ziel kam. Mutter Natur hatte ihr das Zeitgefühl für den richtigen Moment in die Wiege gelegt und erst, wenn die Grenze erreicht war, schnellte sie los und verbiss sich in ihr Beutetier. Leni handelte ähnlich, als sie sich dem Rattagei näherte. Wie die Schlange robbte sich auch die Soldatin am Rand des soeben erklommenen Hauses entlang. Eine kontrollierte Atmung und hypnotisierendes Voranschreiten ebneten ihr den Weg in Richtung des verfluchten Federvieches. Er hockte immer noch dort auf der Kante des Hauses und fokussierte, mit verdrehtem Hals, die herannahende Gefahr. Doch dann überkam die Soldatin der Instinkt. Blitzartig zog sie ihre Pistole hinter ihrem Rücken hervor und richtete sie auf die Gasse unter ihr. Der Mann, der immer noch keine große Rolle in ihrer Wahrnehmung spielte, war verschwunden, aber – und das war noch viel wichtiger – niemand war ihr auf das Dach gefolgt. Trotzdem geriet Leni ins Grübeln. Vermochte dieses gefiederte Biest es etwa einen menschlichen Sklaven zu halten, der nun sein bestes gab, um dieses bevorstehende Attentat zu verhindern? Ohne hastige Bewegungen blickte die Minh sich um und erstarrte nicht, weil Greed, ihr Widersacher in Spe, noch nicht auf der anderen Seite des Hauses angekommen war. Auf dieses baldige Zusammentreffen würde sie sich gar nicht freuen, wenn sie denn nur davon wüsste.
Der Vogel saß da: Ruhig, musternd, verurteilend – wie jeder Diktator in der Geschichte der Welt sah auch er sein Ende nicht kommen und rührte sich nicht. Die Boa schlängelte sich heran. Sie war mittlerweile in Griffweite. Sie griff zu.
An dieser Stelle sei das verfluchte Gefieder dieser verfluchten Vögel erwähnt. In einer Sekunde umschlossen die Hände noch den offensichtlich geschwollenen Oberkörper und in der nächsten sog er sich wie eine Spaghetti zwischen den Fingern hindurch. Verfluchte Plagen! Ihr Gefieder ließ sie weitaus dicker wirken, als sie eigentlich waren und als wäre das noch nicht genug, so plusterten sie sich noch zusätzlich auf, weil es halt von Natur aus arrogante, hassenswerte Tiere waren.
Leni hatte ein oder zwei Federn zwischen ihren schlanken Griffeln kleben, beachtete diese aber nicht weiter und zog sofort wieder die Pistole. Die Laufbahn, die die Frau unweigerlich durch die Luft zog, um dem Nemesis den Garaus zu machen, ließ sie letztendlich nicht den Abzug betätigen, sondern erstarren. Der Rattagei landete auf…
 

Greed

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Für den Moment war Jin Chadao nicht mehr als ein stiller Beobachter, ein aufmerksamer Zuschauer, ein dunkler Schatten. Nur die obere Hälfte seines Kopfes bis kaum unter die Augen war über der Kante des Daches zu sehen, während er seinen geflügelten Gefährten Perry und die angreifende Dame ausspionierte. Er konnte mehr als nur deutlich erkennen, dass die scharfsinnigen Augen des Vogels direkt auf die schleichende Frau gerichtet waren und er sich somit dessen bewusst war, was da auf ihn zukam. Der junge Mann wusste nur zu gut, dass der Vogel verhältnismäßig intelligent war und eine Art sechsten Sinn für Schabernack besaß. Gespannt beobachtete der Sohn des Chefs von Hochinh dieses seltsame Aufeinandertreffen und kam nicht umher, die Bewegungen der jungen Frau zu bemerken. Es war leicht ersichtlich, dass hinter ihr mehr steckte, als man auf den ersten Blick vermutet hätte. Das war ganz offensichtlich keine normale Frau, die nur zum Spaß den Panzer einer Soldatendeckelschildkröte aus dem Kopf trug. Nein, sie war definitiv gut trainiert und nicht nur war sie in Topform, nein, sie war sich auch durchaus bewusst, wie sie sich beim Anschleichen auf ein Beutetier verhalten musste. Obgleich das in dieser Situation ziemlich sinnlos erschien, da der Rattagei, der ihr Ziel war, sie ja auf Schritt und Tritt beobachtete, so schlangengleich sie sich auch über das flache Dach bewegte. Allerdings passten auch ihre Kleidung und ihre sonstige Aufmachung nicht wirklich zu dem, was Greed bis jetzt von den Soldaten des Dorfes Staminh gesehen oder gehört hatte. Irgendwie war das alles zu kurz, zu knapp und… war das etwas anderes an Farbe als Tarnfarbe in ihrem Gesicht? Irgendwie passte das nicht zusammen. Die gehörte scheinbar nicht zu den festen Streitkräften… oder war das eine Sondereinheit? Eine… rattageienjagende… Sondereinheit? Nein, das war absoluter Bullshit, das machte vorne und hinten keinen Sinn, auch wenn Rattageien in den Dörfern als Plage angesehen wurden. Sie waren trotzdem nicht derartig bedrohlich, dass man ganze Kommandos auf sie ansetzen musste.
Tatsächlich hatte der Mittzwanziger nur kurz darüber nachgedacht, ob er nicht doch seinen Gefährten schützen müsste, doch die Haltung des Vogels überzeugte ihn schnell vom Gegenteil. Er hatte genug Zeit mit ihm verbracht, um zu wissen, dass er sich darauf vorbereitete, die Jägerin zu veralbern. Er dachte ja nicht einmal daran, sich einfach zu fangen und umbringen zu lassen. Nein, das Tier wartete nur bis zur letzten Sekunde, bevor es sich dann aus der Gefahrenzone verabschiedete, aber nicht ohne der Frau direkt vor der Nase ein kleines, duftendes Geschenk zu hinterlassen. So ein Arschloch von einem Vogel! Irgendwann würde ihn dieses Verhalten noch einmal ins Grab bringen und vielleicht war das sogar schon heute der Fall, denn die junge Frau schien sich das nicht gefallen lassen zu wollen und zückte eine Pistole, wie sie bei den Streitkräften von Staminh nun mal so üblich war. Dämliche Feuerwaffen. Jin erkannte die Gefahr und katapultierte sich mit kräftigen Bewegungen auf das Dach und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf, mit den Armen vor der Brust verschränkt, den Mantel leicht im Wind wehend und die stechenden Augen hinter den dunklen Gläsern seiner Brille verborgen. Das Sonnenlicht, das selbst die Brille nicht vollkommen abhalten konnte, nervte ihn, doch die Situation hatte sich so entwickelt, dass sein Eingreifen erforderlich geworden war. Es dauerte nicht lange, da war das freche Federvieh auf der Schulter des Mannes gelandet, von dem es sicher war, dass er sein Überleben sichern würde. Noch immer mit verstohlenem Blick schaute es über die Schulter zurück zu der Frau, hatte ihr aber eigentlich noch das Hinterteil zugekehrt. Ganz im Gegenteil zu dem Mann, der nun auf die Jägerin hinabschaute. Mit einem abschätzenden Blick betrachtete Jin Chadao Leni, auch wenn er diesen Namen zu der Zeit noch gar nicht kannte. Für einen Moment war es still um die beiden und nur der Wind brachte den weiten Mantel zum Flattern und erzeugte ein paar Laute. Und was denkst du, was du da tust? fragte er mit einem Lächeln im Gesicht, das vermutlich einem jeden normalen Menschen einen Schauer über den Rücken gejagt hätte. Es wurde recht klar, dass er nicht darauf aus war, Spielchen zu spielen.
 

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Leni hielt inne. Die Pistole war genau auf den Rücken des Rattageis gezielt, aber die Situation zwang sie nicht gleich loszuschießen. Das Federvieh war auf der Schulter eines Mannes gelandet, der nun seinen langen Schatten auf das Dach des Hauses warf. Er grinste schelmisch drein und entblößte dabei zwei Reihen gelblicher Zähne. Würde der Wind anders stehen, hätte die Schützin wahrscheinlich auch den typischen Tabakgeruch wahrnehmen können, aber jetzt reichten die Beißer als Indiz für die schlechte Angewohnheit des Mannes.
„Und was denkst du, was du da tust?“, sagte er frei heraus.
Welch verwirrende Frage. War sie auf die Tatsache gemünzt, dass Leni illegal ein Haus erklommen hatte und sich gerade auf Privatgrundstück aufhielt oder ging es gar um die Pistole, die immerhin fast auf ihn gerichtet war? Oder lag es – und das war eigentlich die unwahrscheinlichste Situation – an dem Versuch den Vogel zu lynchen? Aber wer hielt sich schon so ein Ding als Haustier? Das wäre so als würde man eine Kakerlake, Mehlwürmer, Zecken oder kotschleudernde Brüllaffen halten – niemand machte sowas!
„Ich will nur den Vogel, Sir, dann bin ich schon von ihrem Dach verschwunden“, handelte Leni geschickt aus. „Er hat etwas gestohlen, was mir gehört.“ Es tat immer gut einem solchen Szenario etwas Nachdruck zu verleihen, indem man sich als das Opfer eines hinterhältigen Plots ausgab, den Gott höchstpersönlich gegen einen ausgeheckt hat.
Aber irgendwas war komisch an diesem Mann. Erst jetzt fiel Leni auf, dass er keine Angst zu zeigen schien, obwohl eine Waffe auf ihn gerichtet war. Natürlich waren die Bewohner dieser Insel mehr als nur vertraut mit dem Anblick und Gebrauch dieser Tötungsinstrumente, aber gerade deswegen mochten die meisten es nicht, wenn man eine geladene Waffe auf sie richtete. Es war zwar nur eine lächerliche Pistole, aber auf diese Entfernung und so ganz ohne Schutz würde sie sicher tödlich wirken, wenn man denn im Gesicht getroffen wurde.
„Und wer sind Sie überhaupt?“, ergab sich Leni ihrer Neugier.
 

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Neugierig musterte Jin Chadao die junge Frau, die da so sorglos mit ihrer Waffe auf ihn zielte. Der Blick in ihren Augen verriet, dass das nicht das erste Mal war, dass sie mit einer geladenen Waffe jemandem im Visier hatte und vermutlich würde es sogar nicht einmal das erste Betätigen des Abzugs in einer solchen Situation sein. Doch etwas anderes lag ebenfalls in ihren Augen. Verwirrung. Natürlich würde es ihr niemand übelnehmen konnten, wenn sie nicht imstande war, diese Konstellation aus Mensch und Tier zu lesen, war es doch auf dieser Insel alles andere als üblich, dass sich ein Mensch mit einem Exemplar dieser Papageienart verbrüderte, wurden sie doch eher nur als Unruhestifter, Störenfriede und Schädlinge angesehen. Doch der Sohn des Chefs von Hochinh war vielleicht der erste gewesen, der das unheimliche Potenzial erkannt hatte, das ihn ihnen schlummerte, was wohl auch durch seinen einzigartigen Lebenswandel und die merkwürdigen Umstände des Kennenlernens zwischen dem Federvieh und seiner Wenigkeit bedingt wurde. Wären sie sich an einem anderen Ort, zu anderer Zeit und unter anderen Umständen begegnet wären, hätte er vielleicht eine Klinge genutzt, um den Flattermann kurzerhand den Garaus zu machen, doch nun saß er friedlich auf seiner Schulter und wusste, dass ihm dort nichts geschehen würde, solange sein Mensch das verhindern könnte. Dessen Grinsen wurde bei der Antwort der jungen Frau nur noch einmal um einiges breiter. Dieser Vogel? Eine Geste in Richtung von Perry, ein gedrehter Kopf, die Frage war perfekt. Nun, Jin begann langsam, fast gefällig zu reden und seine Hand kreiste fast ein wenig ziellos wirkend in der Luft umher, zuerst einmal ist das MEIN Vogel. Und ich glaube auch ehrlich gesagt nicht, dass er dir irgendetwas entwendet hat, wo sollte er das denn auch verstecken? Jin hob die rechte Hand, die komplett von einem dunklen Handschuh bedeckt war, und strich dem Vogel auf seiner Schulter sanft über den Hals, den dieser ihm bereitwillig präsentierte, denn er hatte sich inzwischen umgekehrt und präsentierte auch Leni inzwischen wieder seiner Brust, sich mehr als nur bewusst, dass ihm nun nichts mehr passieren sollte. Auch wenn der Mann das Gefühl des grünen Gefieders auf den Spitzen seiner Finger ein wenig vermisste, war es doch kein ausreichend wichtiger Grund, für den er seine ihn verhüllende Kleidung ablegen würde. Während so das Leder der Handschuhe, die er erst vor drei Tagen gestohlen hatte, über den Torso des Vogels strich, wanderte sein Blick erst direkt zu den Augen des Tieres und anschließend schnell wieder zu der Frau, die sich zu einem gewissen Teil wie eines verhielt, denn einerseits hatte er sich ja versichern müssen, dass Perry nicht wirklich irgendetwas entwendet hatte oder wenn doch, dass er rechtzeitig andere Aktionen in Angriff nehmen konnte und andererseits wollte er auch den weiblichen Soldatenverschnitt nicht allzu lange aus den Augen lassen, ging von ihr doch immerhin eine nicht zu unterschätzende Gefahr aus, vor allem mit der höchstwahrscheinlich geladenen Waffe in der Hand. Doch vielleicht würde er ja aus der Verwirrung der jungen Staminh-Dame Kapital schlagen können, wenn er seine Karten nur richtig ausspielte, auch wenn sich das als äußerst kniffelig erweisen könnte, da er wirklich rein gar nichts über ihren Hintergrund wusste und scheinbar auch alle Informationen über dieses Dorf, die er noch in Kindertagen erhalten hatten, an Märchenerzählung grenzten. Ohne verwertbare Informationen war es immer ein wenig schwerer, die Personen, mit denen man es zu tun hatte, einzuschätzen, doch vielleicht würde es ihm ja auch hier gelingen. Es würde wohl am besten sein, wenn man sie erst einmal verbal entwaffnen würde, dann würde sie entweder weiter ins Stocken kommen oder sich in die Enge gedrängt fühlen und ihr wahres Ich zeigen, welches auf die ein oder andere Art hilfreich sein könnte. Er hatte ihren Finger am Abzug genau im Blick, sobald der auch nur die Anstalten machen würde, selbigen zu betätigen würde er sich schon zur Seite bewegen, konnte er doch ganz gut abschätzen, wohin sie zielte. Schon früh hatten seine Brüder und er derartige Dinge lernen müssen, wäre es doch keine Seltenheit gewesen, dass die Kinder des Chefs eines Dorfes mit einem Attentat konfrontiert worden wären.
Er war bereit, mit ganzen Körper darauf eingestellt, ihrem Schuss bei dem ersten Anzeichen auszuweichen, als er wieder das Wort ergriff. Aber ein Vorschlag zur Güte. Warum verrätst du mir nicht, was genau der kleine Perry hier dir gestohlen haben soll, bevor wir fortfahren. Dann können wir schauen, ob er das wirklich noch hat und vielleicht… aber auch nur vielleicht verrate ich dir dann auch, wer ich bin, denn das ist schon eine sehr wichtige und wertvolle Information und da muss ich gut abwägen, wem ich so etwas anvertrauen kann, nicht wahr? Ein verschmitztes Lächeln zierte sein Gesicht. Der Köder war ausgeworfen. Sie hatte eben schon danach gefragt, wer er war. Sein Gehabe, dass er sich wichtig präsentierte und auch seine Identität derartig anpries, sollte vielleicht dafür sorgen, dass sie etwas mehr über ihre Beweggründe preisgab, um im Gegenzug Informationen über ihn zu erfahren, schließlich war ein solcher Austausch theoretisch fair. Wenn nicht alles, was er beabsichtigte, ihr zu erzählen, gelogen wäre, aber das war es. Außer vielleicht… nein, man konnte jetzt noch nicht davon ausgehen, dass sie zu dem erlesenen Kreis der Personen gehören könnte, die würdig wären, ihn auf seinem Streitzug der Vergeltung zu begleiten und zu unterstützen, immerhin zielte sie gerade noch mit einer potenziell tödlichen Waffe auf ihn und hatte versucht, seinen Begleiter mit bloßen Händen aus der diesseitigen Welt zu reißen. Vorsicht war besser als Nachsicht und so ging Jin einfach davon aus, dass er sie würde eliminieren oder ihr eine Riesenportion Lügen würde auftischen müssen. Diese Interaktionen mit anderen Menschen hatte er über die lange Zeit seiner Insolation wirklich mehr als nur vermischt. Er liebte es, ihre Reaktionen zu studieren und zu versuchen, sie nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, eine jede ihrer Bewegungen zu kontrollieren. Auch wenn das früher immer sehr schwer gewesen war – denn wer schenkte schon einem Knirps Gehör – doch die Vorstellung hatte den jungen Mann schon immer begeistert.
 
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Unten, auf den Straßen des Marktes, nahm das Getümmel kaufwilliger Konsumenten zu, was einen stetig ansteigenden Lärmpegel zur Folge hatte, der allerdings rein gar nichts mit dem Schweigen auf einem der Dächer zu tun hatte. Dort herrschte eine mehr oder weniger bedrückende Stille, die aus der Tatsache resultierte, dass dieser merkwürdige Mann, dieser Freak, sich allen Ernstes einen Rattagei als Haustier hielt. Wer zur Hölle machte sowas?!, dachte sich Leni, aber die Antwort war klar: Ein totaler Psycho, der keine klaren Linien kannte, keine Grenzen, keine Fraktionen. Dieser hochgradig Gestörte hatte in einem genialen Wahn oder gar der wahnsinnigen Genialität seinen Vogel als Köder ausgeworfen, um Leni zu angeln. War er ein Assassine? Vielleicht. Aber was er definitiv war, konnte man getrost mit dem Titel Teufelskerl zusammenfassen, denn nur wenige Assassinen – und das schließt die geisteskranken ein – hatten den Mumm sich dem Opfer in einem wahren Kampf zu stellen. Und dann begann er das Reden. Er wollte wissen, was der Vogel gestohlen hatte und Leni tat sich schwer zu antworten, weil ihre Antwort sie selbst verraten würde. Denn immerhin handelte es sich hier nicht um ein gestohlenes Gut, sondern um das Beobachten einer illegalen Tat. Und das letzte, was die Minh gebrauchen könnte, war ein Steckbrief mit ihrem Gesicht drauf, welches fortan neben jedem Gemüsestand zu finden sein würde.
„Geistiges Eigentum“, murmelte Leni also auf die Frage nach dem Was hin. „Er weiß, was er getan hat. Das hier ist eine Sache zwischen mir und ihm!“
Ruhig Blut, junge Dame. Kein Grund zum Ende der wenigen Sätze Druck aufzubauen.
„Und nun her mit deinem Namen“, hing sie in deutlich gesitteteren Tonfall hintenan.
Während all dieser Zeit zuckte der ausgestreckte Arm der Soldatin kein einziges Mal. Sie war wie eine Statue, die erst durch ein Zauberwort wieder in Bewegung verfallen würde. Fraglich war hier also, was das Zauberwort war und ob es dafür sorgte, dass der Arm seine Position änderte oder nur der Zeigefinger.
Ein weiteres Problem, welches die junge Frau hatte, war, dass sie den Mann nicht einordnen konnte. Er schien weder zur normalen Bevölkerung zu gehören, noch aktiver Teil einer Armee zu sein; er strahlte die Furchtlosigkeit eines erfahrenen Kämpfers aus, aber zeugte von gravierenden Geisteskrankheiten, die ihn zu solch bizarren Taten zwangen, wie einen Rattagei halten. Positiv fiel Leni allerdings jetzt schon auf, dass sie ihn aus irgendeinem Grund noch nicht erschossen hatte. Ihre Augen wurden schlitzförmig und wirkte so, als ob sie ihren Gegenüber musterte, aber eigentlich musterte sie ihr Inneres.
 

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Die Sonne stand inzwischen ein gutes Stück über den Wipfeln der Mangrovenwälder Chientranhs und blickte neugierig auf das Geschehen auf einem kleinen, unbedeutenden Dach im Dorfe Staminh, auf dem sich äußerst interessante Dinge abzuspielen schienen, die nur sie und sie allein betrachten konnte. Mal abgesehen von den drei Beteiligten in Form eines Rattageien, einer jungen Frau mit Soldatendeckelschildkrötenhelm und einem jungen Mann, dessen Zähne im Licht des Himmelskörpers noch ein wenig gelber erschienen als sie es ohnehin waren.
Jin Chadao, der seit seiner Rückkehr kaum eine Miene verzogen hatte, weil es einfach nicht den Anlass dazu gegeben hatte, hatte die Hand an den Stirn und den Kopf in den Nacken geworfen, ein unterdrücktes, dreckiges Lachen entrann seiner Kehle. Wie lange war es doch her gewesen, dass er mit solch sonderbaren Menschen konfrontiert worden war? Sie und Perry? Hahahahaha, das war doch einfach nur köstlich. Vielleicht hatte er die verrückteste Person auf dieser Insel gefunden und das nach so kurzer Zeit. Sie hatte seine improvisierte Gesprächsplanung komplett über den Haufen geworfen, das passte ihm gar nicht, aber wenn sie schon so bekloppt war, war es eher unwahrscheinlich, dass sie mit irgendeiner größeren Autorität im Bunde war, vor allem, wenn sie schon Rattageien verdächtigte, die ganz offensichtlich nichts getan hatten. Dieser Wahnsinn könnte sich als Schwäche erweisen, doch vielleicht… und nur vielleicht wäre sie eine der wenigen Personen, die auf dieser Insel dazu geeignet wären, ihm bei seinem Plan zu unterstützen… und sei es als Ablenkung. Der Kopf des jungen Mannes bewegte sich wieder zurück und auch die Hand fuhr wieder von der Stirn herab, zog jedoch bei dieser Aktion die Sonnebrille ein kleines Stück weiter die Nase hinunter, sodass über ihrem oberen Rand die Augen mit der gelben Iris zum Vorschein kamen, und sich zum ersten Mal die Blicke der beiden Menschen ohne verdunkelte Gläser zwischen ihnen trafen. Jins Blick war stechend und fokussiert, unterlegt mit einem Hauch von schleichendem Wahnsinn, der sich erst noch zu manifestieren hatte. Er hatte etwas… Unersättliches an sich, die junge Frau, die noch immer ihre Pistole auf ihn gerichtet hatte, wurde von oben bis unten gescannt, auf eine imaginäre Waage gelegt und im Wert gemessen. Und sie wurde für gut befunden. Sicher, sie hatte ihre potenziellen Schwachstellen, doch aufgewogen mit seinen kaum vorhandenen Alternativen und ihren Fähigkeiten würde sie sicherlich eine nützliche Komplizin darstellen. Es war schon beeindruckend, wie starr sie ihre Waffe auf das gleiche Ziel gerichtet halten konnte, ohne sich auch nur ein Stück zu rühren, es zeugte eindeutig von langem Training und guter Körperbeherrschung. Vermutlich war sie tatsächlich eine sehr ordentliche Schützin und so etwas konnte man immer brauchen, wenn man selbst eher im Nahkampf bewandert war. Er wollte sie.
Doch dafür hieß es erst einmal diesen sinnlosen Mist mit Perry aus der Welt schaffen, den sie sich in ihrem Wahnsinn eingebildet hatte. Immerhin könnte er – auch für den Gewinn einer neuen Kameradin – nicht auf den Vogel verzichten, der hatte sich schließlich schon über eine geraume Zeitspanne als äußerst nützlich und loyal erwiesen. Es mochte ein Schuss ins Blaue sein, aber wenn sie schon einen Soldatenhelm trug und eindeutig durchgeknallt war, konnte ja auch eine solche Argumentationskette nicht schaden… Nun… das ist es… nicht. erwiderte die personifizierte Gier mit etwas mehr Nachdruck in der Stimme. Er ist mein Untergebener und als solcher gehen alle Dinge, die ihn betreffen, auch mich etwas an. Also sprich offen. Seine Version der Geschichte kenn ich schon, erzähl mir deine. Natürlich hatte Jin keine Ahnung, was genau Perry jetzt eigentlich getan hatte, doch nach ihrer Argumentation könnte sie das ebenso gut glauben. Was auch immer sie jetzt sagte, es würde dafür sorgen, dass er sie noch ein wenig besser würde einordnen können und wenn er erst genau wusste, mit wem er es zu tun hatte, könnte er sie sicher auch besser auf seine Seite ziehen. Doch… vielleicht würde sie auch ein wenig mehr preisgeben, wenn er ihr einen Knochen hinwarf, ihr ihre Frage beantwortete. Es war schließlich nicht so, als müsste er dafür wirklich etwas offenbaren, sein wahres Ich hatte er schon fast hinter sich gelassen, nur ein paar Kleinigkeiten auf dieser Insel banden ihn noch daran und die gedachte der junge Mann schon bald aus der Welt zu schaffen. Also entschied sich der Chadao-Spross zur Antwort.
Du kannst mich Greed nennen. Diese Worte waren ein wenig sanfter gewählt, immerhin hatte auch sie bei ihrer Frage ihren Tonfall angepasst und sich somit ein wenig etwas Entgegenkommen verdient. Da wollte er doch auch mal sehen, ob sie ihm den Gefallen erwiderte, wenn sie ohnehin scheinbar inzwischen bei der Vorstellung angekommen waren, deswegen fügte er mit ruhiger, aber fester Stimme noch hinzu: Und wer bist du?
 

Leni

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Leni konnte die Situation immer noch nicht richtig einordnen. Auf sowas war sie einfach nicht vorbereitet worden. Krisenmanagement war also angesagt, was allerdings auch nicht hilfreich war, da es meistens daraus bestand die letzten Feinde mit einer selbstmörderischen Aktion mit in den Tod zu reißen. Hier war es aber noch nicht einmal zu einem Kampf gekommen und der Mann, der der jungen Dame noch immer mit strotzendem Selbstbewusstsein gegenüberstand, machte auch keine Anstalten daran etwas zu ändern. War er also wirklich so unmenschlich stark, dass ihn die Pistole nicht kümmern brauchte? Aber warum tötete er die Soldatin nicht gleich? War er ein heimtückischer Sadist oder wollte er eigentlich gar nicht sie, sondern Zugang zum Anführer, zu Lenis Vater?
Leni senkte langsam die Waffe und verstaute diese wieder hinter ihrem Rücken. Dann brachte sie ihren Körper in eine aufrechte Position, verschränkte die Arme und dachte weiter nach.
„Weißt du“, begann die junge Frau, „ich wurde von ihm, dem Vogel, dabei gesehen, wie ich Rationen stehlen wollte.“
Ein geständiges Nicken folgte.
Leni hatte die Wahrheit gesagt, vollkommen ohne in paranoide Fantasien zu verfallen – eine Meisterleistung! Und nun musste sie nur noch ihren Namen sagen. Eine Kleinigkeit, da dieser gerade einmal zwei Silben lang war. Aber was hatte dieser Fremde eigentlich davon ihren richtigen Namen zu wissen? Wenn er sie kannte, dann würde er sich sicherlich damit verraten, wenn Leni einen falschen Namen herausgab. Sollte er etwas anderes von ihr wollen, war es sowieso vollkommen unnötig solch nichtige Details zu wissen, die unter Folter aus ihm rauströpfeln könnten.
„Maria Costello“, sagte Leni also schließlich nach einem kurzen Zögern. „Sehr erfreut. Also warum will jemand einen Rattagei zum Freund und nicht Frühstück haben? Bist du etwa ein entflohener Geisteskranker?“
Sie rückte ihren Helm zurecht und kratzte sich die Schläfe.
Es war Zeit für Erklärungen.
 

Greed

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So langsam, aber sicher schien der junge Mann die Kontrolle über das Gespräch zu erringen. Er war sich nicht einhundertprozentig sicher, warum sie das getan hatte, aber anscheinend hatten sein Auftreten und seine Worte die Dame ausreichend beruhigt oder verwirrt, dass sie nicht mehr glaubte, dass sie mit ihrer Pistole etwas ausrichten könnte. Oder sie benutzen müsste. Wer konnte das schon sagen? Doch er hatte es bewerkstelligt, sie stand nun schutzlos vor ihm und wusste vermutlich nicht, dass er in der Lage wäre, ihr in Windeseile eine blanke Klinge an die Kehle zu halten… oder sie ihr mitten durch diese zu rammen. Sie würde sicher auch recht schnell an ihre Waffe kommen und ihre Haltung hatte schon offenbart, dass sie sie im Umgang mit dieser Waffe durchaus ausgebildet und erfahren war. Doch zumindest in seine Schnelligkeit setzte Jin ziemlich viel Hoffnung, konnte er sich doch nur an wenige Menschen erinnern, die schneller gewesen waren als er es jetzt war. Doch das mochte natürlich auch an verzerrten Kindheitserinnerungen liegen und daran, dass er seit seiner Rückkehr noch keine wirklich qualifizierten Kämpfer hatte beobachten können. Nein, der Schwarzhaarige war sich sicher, dass er in einem direkten Duell des Ziehens die Oberhand haben würde und sie umbringen könnte, bevor er sich eine Kugel fangen würde. Vor allem, wenn er dieses Duell initiieren würde, denn das würde ihm einen Vorsprung von einem Bruchteil einer Sekunde geben, doch das wäre alles, was er bräuchte…
Aber mal schauen, ob er überhaupt seine Fähigkeit und seine Waffe würde gebrauchen müssen, denn eigentlich wollte der Chadao-Sprössling das so gut es geht vermeiden, konnte man doch nie wissen, ob man nicht eventuell doch von irgendeinem Punkt aus beobachten werden würde. Seine Gesprächspartnerin wurde auch von Minute zu Minute seltsamer, doch bis jetzt war es nichts, was ihm hätte Sorgen bereiten müssen, vor allem, da nun die bleihaltige Gefahr vorerst aus der Bahn war. Da es bis jetzt so gut geklappt hatte, würde er ihr wohl einfach ein paar weitere Worte schenken, sogar wahre, obgleich sie wohl immer noch ein wenig unglaubwürdig klingen mochten, vor allem für jene, die von dieser Insel stammten. Warum nennst du ihn nicht einfach Perry? Das tue ich auch. Es schadete nichts, ihr den Namen mitzuteilen, den er dem Rattageien genannt hatte, hörte dieser doch ohnehin nur darauf, wenn er es selbst wollte. Doch, als wollte er seinen Menschen bestätigen, gab der Vogel einen pistolenknallartigen Laut von sich, der von ein paar Dächern weiter mehrfach erwidert wurde. Offenbar waren noch mehr Exemplare dieser Spezies unterwegs, auch wenn das eigentlich immer der Fall war. Aber verrate mir doch eins… wieso hast du ihn verfolgt? Ich meine, er ist doch nur ein Vogel, oder? Es war eine Frage aus reiner Neugierde. Immerhin war Perry von außen nun wirklich nicht anzusehen, dass er im Gegensatz zu allen anderen Rattageien der Insel wirklich mit einem Menschen in Kontakt stand und beinahe mit diesem verbrüdert war, dass er für diesen sogar Menschen ausspähte. Woran mochte sie nur diesen Unterschied erkannt haben? Wenn es eine derartig offensichtliche Schwachstelle gab, würde er sie ausmerzen müssen, damit auch in Zukunft die Funktionsfähigkeit seines Spähers gewährleistet sein würde. Zudem… wenn die junge Frau schon zur Kommunikation bereit war, wie sie es gerade den Anschein machte, warum sollte man das dann nicht wirklich Gewinn bringend ausnutzen? Auch wenn... Maria Costello… es konnte ihr richtiger Name sein, aber musste es nicht. Sie hatte aber bis jetzt nicht gelogen. Doch er selbst hatte ja auch einen Decknamen verwendet… nun… selbst wenn es ein Deckname war, dann hatte sie immerhin nur das getan, was er auch getan hatte und das glich sich ja dann nur einfach aus. Außerdem, wen störte es schon sonderlich, wenn sie nicht ihren richtigen Namen nannte, ihre Herkunft war bestenfalls insoweit von Bedeutung, dass es über ihre Beweggründe ausgeben könnte und dafür bräuchte er nicht ihren Namen, zumal ihm der Name einer Soldatin aus Staminh wohl eh nichts sagen würde. Nun, Maria – der Name wurde auffällig betont – warum nicht? Er hat sich bereits als äußerst nützlich erwiesen. Aber ich bin auch sicher kein entflohener Geisteskranker, nur ein Mann mit einem Ziel. Eigentlich eine sehr lustige Frage, die sie da gestellt hatte, denn einerseits war er ja tatsächlich entflohen und andererseits war sie selbst ganz offensichtlich geisteskrank. Gemeinsam wären sie so also die Person, nach der sie selbst gefragt hatte.
Jetzt aber setzte der Vierling schnell zu einer Gegenfrage an, bevor die Blondine ihn weiter ausfragen konnte, immerhin wollte er die Kontrolle über dieses Gespräch nicht aus der Hand geben. Aber dann beantworte mir im Gegenzug doch auch meine Frage. Warum stiehlst du Rationen? Gehörst du nicht zu diesem Dorf? Das war eine der wichtigen Fragen, die es zu klären galt. Wenn er mit ihr planen wollte, müsste er durchschauen, welcher Fraktion sie auf dieser Insel, die eigentlich nur schwarz und weiß kannte, angehörte. Jin war sich bewusst, dass es nicht viele wie ihn gab, Fraktionslose, die einfach nur jemand Bestimmten nach dem Leben trachteten und diese Insel verlassen wollten. Die meisten dachten nicht einmal an die Welt außerhalb und wenn doch, dann eher mit Abscheu. Doch wenn sie schon von dem Dorf hier stahl und nicht nach Hochinh überlief… ja, es gab Hoffnung, dass es sich hier nicht um eine treue Rekrutin in einem Sonderausbildungsverfahren der staminhschen Streitkräfte handelte. Ihre Aufmachung ließ ohnehin darauf schließen, doch man konnte sich ja niemals sicher sein. Selbst wenn sie fraktionslos war… er würde sie im Auge behalten müssen, so wie ein jedes Wesen von dieser heimtückischen Insel.
 

Leni

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Mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht wanderten die Augen der jungen Minh immer wieder über den Vogel – Perry war sein Name, aber irgendwie weigerte sich irgendwas in ihr dieses wandelnde Brathähnchen als ebenbürtig anzusehen –, den Mann und die Hände ebendieses Mannes. Nur weil die beiden gerade in ein Gespräch gekommen sind, musste man noch nicht die Griffel seines Gegenübers aus den Augen lassen. So hatten Taschendiebe erst recht leichtes Spiel.
„Perry“, begann Leni schließlich zu sagen, „starrt. Er gafft förmlich. Seine kleinen, seelenlosen Knopfaugen wandern nicht so verwirrt und unbekümmert hin und her, wie die seiner Artgenossen. Nein, stattdessen beobachtet er mit äußerster Genauigkeit gewisse Personen. Mich zum Beispiel. Nicht jeden, aber mich. Ein normales Vogeldings würde direkt weitergucken, wenn es mich erspäht hätte und nicht starren. Wer starrt, der weiß. Wer weiß, der lebt gefährlich auf dieser Insel, denn Spione sind überall.“
Ob dieser Mann wirklich mit diesem Rattagei kommunizieren könnte, als wäre er eine menschliche Person? Leni bezweifelte es, aber dennoch war es mehr als nur interessant darüber nachzudenken. Interessant und beängstigend, denn vielleicht war der Fremde mit den gelben Zähnen nicht der erste, der einen kleinen Perry zum Auskundschaften an seiner Seite hatte. Möglicherweise gab es dort draußen eine ganze Schar an Trainern, die Tiere für militärische Zwecke einsetzen und nicht nur zum Schleppen von Gegenständen an die Front nutzen. Definitiv musste Leni diese Theorie ans Ohr ihres Vaters tragen. Die Chance, dass die kleine Truppe ins taktische Hintertreffen gekommen war, nur weil sie ihre Tiere aßen, jagte der Soldatin einen kalten Schauer den Rücken hinunter.
Bei den nächsten Sätzen des Fremden überhörte Leni gekonnt den Tonfall beim Aussprechen ihres falschen Namens. Vielmehr ging sie auf den Satz ein, indem der Mann behauptete, dass er gar kein Geisteskranker war, sondern lediglich eine zielgesteuerte Gestalt: „Würde ein Geisteskranker nicht glauben ein Ziel zu haben? Erzähl mir lieber von deinem Ziel, ansonsten wird sich die Situation kaum bessern.“
Wahre Worte wurden von ihr gesprochen, aber die Ironie entging der Guten, denn immerhin war sie wirklich gestört.
Dennoch hielt die Soldatin es nur für höflich die Fragen des Herren Greed zu beantworten, bevor er seine Ziele offenbarte. Das Problem lag dabei nur bei der letzten Frage, die er gestellt hatte. Sie gehörte nicht wirklich zu diesem oder jenem Dorf. Sie war – und das bemerkte sie erst jetzt, wo sie mit der Nase drauf gestoßen war – ihrem Vater verpflichtet und dieser redete eigentlich nie sehr spezifisch von einer Seite. In seinen Augen waren sie nun mal alle nicht vertrauenswürdig, denn sonst würde er ja nicht Jahrzehnte lang versteckt im tiefsten Dschungel leben, oder?
„Um deinen Fragen zu beantworten: Ich stehle Rationen, weil man sich nicht ewig von Rattageien ernähren kann.“, begann Leni und schielte beim letzten Teil des Satzes in Perry’s Richtung. „Ein guter Soldat braucht sämtliche Nährstoffe, um korrekt zu funktionieren! Und zu welchem Dorf ich gehöre, geht dich nichts an. Vielleicht ist das hier meine Heimat, vielleicht auch nicht. Vielleicht bin ich eine wilde Streunerin, vielleicht aber auch eine Feindin, die die Gewässer testet bevor sie zuschlägt.“
Eine vage Antwort mit der Leni Greed zurückließ.
 
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