Die Tür des Waisenhauses öffnete sich ein erstes Mal und ließ den Zimmermann der Hamster-Piraten ein. Hero musterte ihn unauffällig, nahm das bandagierte Haupt zur Kenntnis und kam zu dem Ergebnis, dass es dem hochgewachsenen Mann insgesamt gut zu gehen schien. Und er wusste augenscheinlich eine Auszeit zu schätzen, wenn sie sich ihm darbot, denn kaum hatte er seinen Körper auf einem der Stühle drapiert, wurde die leise Umgebung von einem regelmäßigen, leicht gedämpften Schnarchen erfüllt. Hero war fasziniert von seiner kugelförmigen Haarpracht, nie zuvor hatte sie jemanden mit solchen Haaren gesehen. Und obwohl sie nie ihre Form änderten, passten sie sich trotzdem weich der Stuhllehne an, als er seinen Kopf anlehnte. Ob sie sich ebenso flauschig anfühlten, wie sie aussahen?
Die Tür öffnete sich ein zweites Mal und Hero wurde aus ihren Gedanken gerissen. Keiji trat in den Raum und nahm ihn unwillkürlich ein. Seine Ziehtochter war erleichtert, ihn zu sehen, wenn es ihm gutging, waren die Kinder ebenfalls in Sicherheit.
Hero sah den ernsten Ausdruck seiner wachsamen Augen und rutschte ohne ein weiteres Wort von ihrem Stuhl, um seiner Aufforderung zu folgen. Mit einem letzten, scharfen Blick in Richtung Kakuga ging sie in Richtung Tür.
Diese wurde plötzlich ein weiteres Mal geöffnet und Hero verspürte nur noch den Luftzug und ihre wehenden Haare, als das inzwischen in Mitleidenschaft gezogene Inventar von Keijis beiläufig ausgestrecktem rechten Arm gestoppt wurde.
Als wäre das Kunststück unzählige Male geübt worden, wurde der Hausherr um die Tür erleichtert und sie fand ihren Weg erneut zurück in die Angeln, ganz so, als sei nichts geschehen. Hero blinzelte überrascht und nachdem sie ihren offenstehenden Mund geschlossen hatte, beschloss sie, es diesem Beispiel gleichzutun und trat möglichst ungerührt an Boris und seinem tierischen Begleiter vorbei nach draußen. Auch den Hünen, der fast das doppelte ihrer Körpergröße maß, musterte sie kurz und kam zu dem Schluss, dass er spätestens in Anbetracht seines Energieüberschusses unmöglich einen Kampf hinter sich haben konnte, wie sie ihn an seiner Front vermutet hatte.
Keiji hatte sich bereits ein paar Schritte von dem Waisenhaus entfernt und winkte Hero heran. Er wirkte nachdenklich und die Falten auf seiner Stirn und um seine leicht zusammengekniffenen Mundwinkel traten leicht hervor. Sie ließen ihn alt wirken. Hero konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Sie hatte diesen seltenen Gesichtsausdruck mit der Zeit einzuordnen gelernt.
»Heroe« begann er und sein Tonfall war frei von seiner gewöhnlichen Leichtigkeit. »Unser Sirahs. Und der gute Rhai. Sogar mein Kasuko. Sie sind alle weg.«
Hero blieb stehen und nachdem Keiji merkte, dass sie ihm nicht mehr folgte, hielt auch er an und wandte sich zu ihr um. Mitgefühl sprach aus ihrem Blick.
»Ja. Wir schulden ihnen etwas.« Ein gequälter Ausdruck trat in sein Gesicht. »Der Preis ist hoch..« Seine Stimme klang hohl und Heros Gesichtszüge wurden im nächsten Moment hart.
»Heroe - «
»Ich will nichts davon hören« rief sie plötzlich aufgebracht und stapfte auf Keiji zu.
»Ja, sie trinken deinen Wein, ja, sie trinken dein Bier - und mach' dich darauf gefasst, Vater, sie trinken sogar deinen Branntwein - ich habe ihn selbst auf den Tisch gestellt. Und wenn du zurückkommst, wird es vielleicht alles weg sein! Jeder Tropfen. Wenn du Glück hast, sind die Flaschen noch heil. Und das - und mehr - haben sie sich heute verdient!« Als habe sie den Dolch in seiner Brust umgedreht, stöhnte Keiji leise auf.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass es soweit kommen könnte..«
Die Worte erstarben, als die Stimme eines gebrochenen Mannes den Dienst versagte.
Hero hegte nicht die Absicht, diesen Konflikt eines weiteren Wortes zu würdigen und ging an Keiji vorbei, der ihr einen Moment nachsah und dann zu ihr aufschloss.
Schweigend gingen sie nebeneinander her, den sanft ansteigenden Hügel hinter dem Haus hinauf. Aus dem Esszimmerfenster erscholl entfernt ein schepperndes Knallen und Klirren, als habe jemand mit einem gewaltigen Hammer auf den gedeckten Tisch geschlagen und anschließend erklang wildes Rufen und Keifen. Hero warf einen sorgenvollen Blick zurück und Keiji entblößte seine Zähne in einem breiten Grinsen.
»Ho, die Jugend. Ein bisschen Futter und sie sind wieder fit. Und die Leberwerte.«
Ein entgeisterter Blick traf ihn von der Seite.
»Du hast schon dafür gesorgt, dass nichts mehr übrig ist, kein Salz in meine Wunden!«
»Also, wann brecht ihr auf?« Hero stolperte beinahe und starrte ihn entgeistert an.
»Wie bitte?«
»Deine Freunde haben heute den Unterschied gemacht, wusstest du das? Und wir haben es den Muertas zu verdanken, dass eine Brücke zwischen Gakuga und Kure geschlagen wurde, die so kaum mehr zu erwarten war. Die alte Krähe hat eine Schwäche für dich.«
»Wundervoll, und du musstest keinen Finger krümmen!«
»Es ist gut, wenn die Leute wissen, dass sie sich auf ihre eigenen Kräfte verlassen können. Ich werde nicht immer ein Auge auf diesen Ort haben.«
»Es ist eben diese Bescheidenheit, die die Menschen an dir mögen.« Keiji lachte erneut auf.
»Zum Teufel mit den Menschen! Sobald sie alt genug sind, geht jede Hoffnung über Bord. Sieh dich an, was ist aus dir geworden? Du redest, als hättest du keinen Humor, aber mehr graue Haare als ich. Hast nichts von der Welt gesehen, außer Granes alter Hexenhütte - nein, ich nehme es nicht zurück, ich habe das Vorrecht, schließlich kenne ich sie länger und weißt du noch, wie sie mich genannt hat? Soll sie mich heimsuchen, ich warte nur darauf. He-xen-hüt-te!« Hero verweigerte jede Antwort und auch Keiji verfiel daraufhin in Schweigen.
»..Hero, ich möchte dich nicht zu etwas -«
»Ich weiß und das tust du nicht.«
»Dann weißt auch, was die Kinder-«
Ein Seufzen und dann lächelte Hero. »Natürlich.« Und insbesondere wollte sie keinen ausschweifenden Abschied. Sie hätte damit rechnen müssen, dass Keiji ihre Absichten durchschauen würde, bevor sie sich selbst darüber im Klaren war. Damit war das Wesentliche geklärt. Es gab keinen Grund, weiter darüber zu diskutieren.
»Und du hattest, hast diese irre Idee-«
»Ja. Und wenn er ist, wofür ich ihn halte, macht er es überhaupt erst möglich.«
»Wirklich, ich denke -«
»Ob das das Problem sein könnte?«
»Im Ernst, lass mich-«
»Besser nicht?«
»Chie. Kann ich nur einen Satz bekommen?«
Sie fuhr zusammen und warf ihm einen Blick zu, der so verletzt wie wütend war, dem er jedoch mühelos standhielt. Es war mehr als ein Jahrzehnt vergangen, seit sie diesen Namen zuletzt gehört hatte.
»Es gibt etwas, worüber ich längst hätte reden müssen, mit dir und mit Heroe. Dass das nicht mehr möglich ist, lässt den Fehler zweifach schwer wiegen.«
Eine Welle kaum kontrollierbarer Emotionen überkam sie und es kostete ihre gesamte Willensanstrengung, um Überraschung, Wut, Trauer, Dankbarkeit und Freude niederzuringen. Sie bemerkte, dass sie die Luft angehalten hatte und entließ den vordersten Gedanken zusammen mit ihrem angestauten Atem.
Asimov gegenüberzutreten schien plötzlich um so vieles leichter, als mit ihrem Ziehvater zu reden.
»'s is' gut, dass Keiji das wiedergutgemacht hat. Und du's ihm verzeihst. Weiß nich', ob ich's könnt'. Hätt' nich' passieren sollen. Dass er's war, der dein' Vater.. Jedenfalls, gut dich gesehn zu haben. Hätt' nich' gedacht, dass wir uns mal über'n Weg laufen, nich'?«
Über viele Jahre hatte sie darauf gewartet, dass Keiji mit ihr darüber sprach. Plötzlich genügte es zu wissen, dass er den Entschluss dazu gefasst hatte. Vielleicht war sie auch nicht sicher, ob sie es ertragen konnte, die Worte aus seinem Mund zu hören.
»Wie wäre es, wenn du und ich unsere jeweiligen Geheimnisse noch etwas länger hüten? Nur für eine kleine, lange Weile.. Vater?«
Es dauerte einen Augenblick, bis sich Keijis Vermutung in Gewissheit verwandelte. Dann konnte er seine Überraschung unmöglich verbergen, als er ein einziges Mal blinzelte und seine Mimik undurchschaubar wurde, auf dass ihn keine Emotion um sein Innerstes betrog.
»Woher weißt du das. Grane.. nein.« Keiji tat seine Vermutung im nächsten Moment ab, als Hero zögerlich den Kopf zu schütteln begann. Ihr Herz drängte sie, ihn von dieser Lüge zu überzeugen. Es würde ihm Frieden bringen zu wissen, dass sie sein Geheimnis von einer Vertrauten erfahren hatte. Das wäre nicht die Wahrheit gewesen und allein dieser war sie verpflichtet.
»Der Alte, der immer vor Magg's sitzt. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt, bloß, dass er wohl in einem halben Jahrhundert noch immer dort sitzen wird.« versuchte sie einen Scherz. Keiji nickte langsam.
»Irgendwann fragen alle Kinder nach ihren Eltern. Es ist schließlich ein Waisenhaus. Alle Kinder, nur nicht du.
Hero.. «
Er begann, in die Knie zu gehen und Hero griff reflexartig nach seinem Arm.
»Nein! Auf keinen Fall. Tust du das, verzeihe ich dir nicht.« Ihr Blick war wild, als er ihr in die Augen sah. »..weil es nichts zu vergeben gibt.«
»Ich habe meinen Namen gewählt und ich entscheide auch, wer ich bin. Du bist meine Familie und ich werde nicht mit ansehen, wie du dich irgendjemandem beugst. Auch nicht mir gegenüber, vor allem nicht ohne Grund.«
»..Das bedeutet.. ich kann weiter meinen Fusel haben?«
Hero wollte ihren Ohren nicht trauen. Für einen Moment konnte sie ihn nur anstarren und reagierte dann schneller, als sie einen bewussten Gedanken fasste. Der Griff des wuchtig samt Scheide geführten Schwertes traf wirkungslos auf eine Handfläche, mit der Keiji den blitzartig gegen seine Schläfe gerichteten Schlag nicht nur abfing, sondern regelrecht auf ihn gewartet zu haben schien.
»Ich war sicher, die Gewitterhexe hätte dir beigebracht, nicht aus Wut anzugreifen?
Damit bestehst du zwar gegen die Raufbolde des Dons, aber wenn du Viel-Muskeln-wenig-Grips dabei helfen willst, es so weit zu bringen, wie er gehen will, wird das nicht reichen. Und Leute wie er gehen nicht den halben und auch nicht den leichten Weg.«
»Dann sollte dich meine Wahl nicht überraschen. Und keine Wut, nur ein freundlicher Hinweis.«
»Ho. Tatsächlich? Aber wer versteht schon Piraten.«
Hero befestigte das Schwert wieder an ihrem Gürtel, als der Wind erneut Lärm aus der Richtung des Waisenhauses zu ihnen herübertrug.
Sie verzog das Gesicht und dachte unwillkürlich an Kajas mahnenden Gesichtsausdruck, Kakugas Konzentration beim Austüfteln der effizientesten Kosten-Fressen-Formel und sah Boris und Mika vor sich, wie sie die Schlacht um das schmackhafteste Dessert vom Vorabend fortsetzten. Schließlich musste sie selbst anfangen zu lachen. Ein heller, unschuldiger Laut, der so sehr zu ihrem Äußeren passte, wie er selten war, sodass Keiji sich nie getraut hätte, sie darauf aufmerksam zu machen.
»Pass auf, dass sie das Haus stehen lassen.«
»Wenn das in meiner Macht steht.«
Als Keiji wenige Minuten später beobachtete, wie seine Tochter vorerst zum letzten Mal nach Hause zurückkehrte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nicht er es war, der jemandem einige Worte mit auf den Weg gegeben hatte. Die Erkenntnis bewirkte, dass er sich ebenso alt wie im Recht fühlte.
Die Tür des Waisenhauses öffnete sich ein letztes Mal und beinahe lautlos glitt sie wieder ins Schloss. Hero bemerkte, dass der charakteristische Hüpfer in der Bewegung der Tür ausblieb und ihr Blick fiel auf die neu eingesetzten Scharniere.
In dem Raum war es auffallend ruhig und Heros Augen weiteten sich, als sie sah, dass kaum ein Krümel auf dem Tisch zurückgeblieben war. Es schien unmöglich, dass vier Personen zwischenzeitlich die gesamten aufgetischten Speisen verzehrt haben konnten. Vage erinnerte sie sich an die Worte der Köchin, die Hero auch dann noch als Übertreibung abgetan hatte. Nun konnte sie offen zugeben, dass sie den Appetit dieser Menschen wesentlich unterschätzt hatte.
Boris hatte soeben einen Satz begonnen und ebenso gespannt wie seine übrigen Zuhörer wartete Hero darauf, dass er ihn vollendete. Schweißperlen waren auf seine Stirn getreten und es dauerte nicht lang, bis Hero bemerkte, dass er den Blick von Kaja mied.
Was vorgefallen sein mochte, während sie mit Keiji gesprochen hatte, entzog sich ihrer Vorstellungskraft. Das betretene Schweigen dauerte an und obgleich Hero die Absicht gehabt hatte, sich nicht einzumischen, war die Stille bald kaum mehr auszuhalten. Auf leisen Sohlen trat sie näher an den Tisch heran.
»Entschuldigung?« wandte sie sich mit ausgesuchter Höflichkeit an die Anwesenden. Als sich ihr niemand in den Weg stellte, fuhr die junge Frau fort.
»Meine Heimat ist euch zu großem Dank verpflichtet. Wir stehen in eurer Schuld.« Sie verbeugte sich stellvertretend für die Insel vor den versammelten Piraten. Die Bewegung ließ sie für einen Moment den schwachen Duft der Flussrosen in ihrem Haar einatmen.
»In Yaryu«, setzte sie an Boris gerichtet an, »habe ich euch für eine Gefahr gehalten. Für diese Insel könnte die Wahrheit nicht fernliegender sein. Ohne euch hätten heute viele ihr Leben lassen müssen. Die Menschen werden euch das nicht vergessen.« Obwohl sie Piraten waren, hatten sie den Mut und das Herz der Helden bewiesen, die Hero aus den Geschichten kannte, die das Theater auf Kyoko zu erzählen wusste.
Sie zog ihr Katana, ließ sich in einer kontrollierten Bewegung auf ein Knie nieder und hielt den kühlen Stahl auf flachen Handflächen vor ihrem Oberkörper.
»Boris, Kapitän der Hamster-Piraten.«
Zugleich versuchte sie nicht an den Rand ihres Verstandes zu drängen, dass sie im Begriff war, jemandem ihre Loyalität auszusprechen, dessen weisesten Einfälle auf die Kommunikation mit einem Hamster zurückzuführen waren. Sie rief sich in Erinnerung, dass nicht einmal dieser Umstand sie von ihrem Vorhaben hatte abbringen können, so oft sie in der vergangenen Nacht darüber nachgedacht hatte.
»Ich bin Heroe Hehero und neben den vielen Dingen, die ich nicht kann, gibt es zwei, von denen man sagt, dass ich sie beherrsche.
Zum einen der Weg dieser Klinge, zum anderen der Weg über das Meer.
Wenn du es erlaubst, möchte ich deine Widersacher zu meinen machen und dazu beitragen, dass du sicher an jeden Ort gelangst, den du erreichen willst.
Nimm mich auf deinem Schiff auf und ich biete dir mein Schwert, mache meine Fähigkeiten zu deinen, schwöre deiner Flagge meine Treue und mein Leben ist in deiner Hand.«