Dort war er also, völlig ohne eine Idee, mit der er die Geschichte weitertragen konnte. Allein im Zimmer einer Prinzessin, verlassen von seiner Navigatorin, die wie eine Katze nach draußen gehuscht war… ein Krimineller, ein einfacher Einbrecher, der Vergessenheit ausgeliefert. Er würde in einer Zelle landen, die sicherlich nicht so sonnig wie der Name dieser Stadt war, sein einziges Essen bestünde aus trocken Brot und Wasser, er würde mit einem eisernen Becher gegen die Stäbe seiner Zelle schlagen, um dem rostigen Eisen krächzende Töne des Mitleids zu entlocken, denn außer seinem Zellenkumpanen Fat Tony und ruppigen Wächtern in glänzenden Rüstungen würde er nie wieder jemanden zu Gesicht bekommen. Der rundliche Betrüger gäbe jedoch sicherlich keinen vernünftigen Gesprächspartner ab, und das Schimmern der goldenen Rüstungen seiner Häscher würde Shien nur daran erinnern, wie hell einst seine eigene Zukunft gefunkelt hatte. Dieser Glanz war jedoch von einem Moment auf den anderen im Angesicht einiger namenloser Aufpasser dem gräulichen Schleier des Vergessens anheim gefallen.
„AUFMACHEN!!!“
Hastig wirbelte Shien herum. Die Wächter waren bereits an der Tür?
*Verflucht! Ich sollte meine Zeit in solchen Situationen nicht mit – zugegebenermaßen wunderschöner – Schwarzmalerei vergeuden. Ein Ausweg, ein Ausweg, ich brauche einen Ausweg…*
Rasch sah der Kapitän zum Fenster hinaus, dem einzigen Weg, der ihm noch offenstand. Blitzschnell spielte er die logischste sowie am nächsten liegende aller Geschichten durch: Er, erst am Fenster, dann mit einem Fuß auf dem Sims, der zweite wurde nachgezogen. Er, kauernd an der Außenwand, ob der Tiefe in Angst versetzt. Männer sammelten sich unter ihm, neben ihm, schrien zu ihm hinauf, brüllten ihn an. Er, nervös, ein falscher Schritt, eine brüchige Kante, ein Fall, Genickbruch, Ende der Geschichte.
„…zähle bis drei, dann brechen wir die Tür auf! Eins! Zwei..!“
*Doppelt verflucht! Zwei Mal..!*
„DREI!“
Ohne weiter nachzudenken sprintete Shien los, fort von der Tür hinter ihm, die krachend aus den Angeln flog. Die Soldaten, die in diesem Moment durch das Portal gestürmt kamen, konnten nur noch einen weißen Haarberg sehen, der sich schreiend aus dem Fenster stürzte.
„KAAAA-BUUU-KIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII!!!“
Der Teil der Wachen, die unter dem Fenster der Prinzessin auf den Flüchtling warteten, sahen inzwischen folgendes: Ein hochgewachsener Mann katapultierte sich mit einem selbstsicheren Sprung vom Fenstersims ihrer Thronerbin und flog laut kreischend durch die Luft. Diese Reise schien ein schnelles Ende zu nehmen, als der Irre direkt auf einen Ast zuhielt, der mitten in seiner Flugbahn hing. Statt jedoch frontal mit dem dicken Holz zu kollidieren schossen die in feinsten Stoff gehüllten Arme des Kerls nach vorn und packten den Ast. Wie ein schneeweißes Äffchen schwang sich der Mann anhand des Astes weiter und setzte seinen Freiflug fort. Da sich der Flüchtling nun jedoch einer massiven Mauer gegenüber sah – diese stellte die Wand eines einfachen Handelshauses dar, dass jenseits der Strasse auf dem der Villa angrenzenden Grundstück errichtet war – wandten viele Wächter ihre Blicke ab. Der Aufprall würde schmerzhaft werden, und viele fürchteten sich davor vom Mitleid übermannt zu werden ob des Schicksals, das der Wahnsinn diesem Kerl vermachte. Andere wiederum warteten gebannt darauf, das Leid dieses zwielichtigen Individuums zu sehen, das die Gemächer ihrer Prinzessin entweiht hatte. Und wieder andere… diese glaubten, dass der behände Fremde erneut mithilfe eines geschickten Tricks seiner sicheren Vernichtung entgehen würde.
Der Film, der sich den umstehenden weiter bot, lief unterdessen folgendermaßen weiter: Von seiner weißen Mähne umwölkt flog der Fremde weiter. Er näherte sich der festen Wand wie ein unwissender Vogel der Fensterscheibe. Noch immer ein langgezogenes „Kabuki“ von sich geben raste er auf die Wand zu, wobei er mitten im Flug sogar noch seine Sandalen aufgeben musste, die klackernd auf dem harten Boden landeten, den der Fremde sogleich selbst küssen werden müsste. Wie in Zeitlupe vergingen die letzten Momente vor dem Aufprall. Blicke wandten sich ab, starrten gebannt oder blinzelten ungläubig. Dann war es soweit, die letzten Zentimeter wurden zurückgelegt…
Und der Weiße krachte frontal gegen die Wand. Einfach so. Dort klebte er dann einige Momente wie eine halb zerschmetterte Fliege, dann noch ein paar, und immer mehr. Er schwebte dort oben weit über die normale Zeitspanne hinaus, die die Schwerkraft benötigt hätte um über die schmierige Adhäsion von Backstein und Blut zu lösen. Dann, völlig unvermittelt, begannen die Arme des Fremden zu zucken. Suchend tasteten sie die Mauer ab und gruben sich anschließend tief in die dunklen Ritzen zwischen dem alten Stein. In diesem Moment wurde vielen gleichzeitig bewusst, warum der Irre noch nicht zurück auf den Boden (der Tatsachen) zurückgefunden hatte: Über zittrige Beine hielt er sich mit den Zehen in die Mauerritzen gegraben über der Masse. Kaum war dieses Geheimnis gelüftet, da erkletterte der Fremde bereits die mauer, bis er schließlich das flache Dach des Handelshauses erreicht hatte. Mit einem hörbaren Ächzen zog er sich auf das Gebäude und verhaarte dort einen Moment.
*Ich… ich…*
Schwer atmend kauerte Shien auf dem Dach des Hauses. Eine ungewohnte Hitze auf der Unterlippe bemächtigte sich seiner Aufmerksamkeit, und nachdem er einmal mit der rechten hand über sein Gesicht gefahren war und das Ergebnis inspizierte war auch mehr oder weniger klar, woher dieses Gefühl kam: Scharlachrotes Blut sickerte aus seiner Nase wie klares Wasser aus seiner Quelle. Shien wagte bei dieser Erkenntnis nicht einmal ansatzweise, seine Nase zu betasten – warum Schmerzen riskieren wenn man auch so wusste, dass man sich gerade die Nase gebrochen hatte? Und doch – sein Körper war gegen eine Wand geprallt und schrie erbärmlich, dennoch war er am Leben. Am Leben und in Freiheit.
Ruckelnd stemmte Shien sich nach oben, blieb kurz stehen, und entledigte sich schließlich seines weiten Kimonos. Der edle Stoff wog plötzlich ungewöhnlich schwer auf den Schultern des Kapitäns, doch das war nicht der einzige Grund dieser Tat. Als sich Shien anschließend umdrehte und auf die Menge hinab sah, die dort unten auf der Strasse zwischen Herrenhaus und Handelskontor den wackeren Kapitän anfunkelte, flog vor seinem inneren Auge sein Mantel zaghaft hinter ihm davon. Die ideale Kulisse für die Pose, die der Kapitän abschließend einnahm: Mit einem nackten Fuß auf das Sims des Daches gestützt griff Shien mit einem Arm, der nun ebenso nackt war – der große Weiße hatte unter seinem Kimono lediglich eine lockere, weiße Stoffhose und ein dazu passendes schwarzes ärmelloses Shirt angezogen – nach dem griff seines Schwertes. Summend glitt die Klinge aus der Saya, durchschnitt die wehrlose Luft und erhob sich gen Himmel. Mit Blick auf die Menge brüllte Shien dann aus vollem Hals und mit fester Stimme ein felsenfestes…
„NICHTS PASSIERT!!!“
Das Echo dieser beiden Worte begleitete den weißhaarigen Kapitän, als dieser nun stumm seinen Abgang machte. Heroisch wandte er sich von seinem Publikum ab, blickte in Richtung Sonne und begann einen Sprint quer über das Dach, der in einen weiteren Sprung von Gebäude zu Gebäude mündete. Einige Augenblicke später wurden die verklingenden letzten Worte des Kapitäns durch ein einziges ersetzt, das noch lauter über die Dächer der Stadt flog:
„KAAAA-BUUU-KIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII!!!“
nach: Der Marktplatz von Sunny