Aus den Erinnerungen eines Wesens, für das Erinnerungen nichts Selbstverständliches sind…
Kalt.
Es war nur ein Gefühl, ein einzelnes, simples Gefühl. In diesem Moment bedeutete es jedoch für das Geschöpf, das noch nie zuvor in seinem Leben einen einzigen, klaren Gedanken fassen konnte, einfach alles, denn es war das erste Gefühl, das wie ein heller Blitz Licht in die ewige Dunkelheit seiner Bewusstlosigkeit brachte.
Kalt.
Ein so einfaches Gefühl, und doch brachte es eine unbekannte Saite in dem Wesen zum schwingen, das noch nie verstehen konnte, nie verstehen durfte! Doch jetzt, von einem Moment auf den anderen, war dieses Gefühl da. Und mit ihm waren die Gedanken gekommen. Es dachte. Es war.
Kalt.
Neugierig dachte das erwachte Wesen über dieses Gefühl nach. Kalt… wieso? Das Drumherum… die Luft, sie bewegte sich, schnell, und ließ den Wald singen. Das war es. Wind, kalter Wind, der über grüne Haut streift. Deshalb ist es kalt. Wenn nur etwas den Wind abhalten würde, dann wäre es nicht mehr so kalt. Warm. Warm?
Lahme Glieder kratzten müde über raue Borke. Eine Ranke bewegte sich über Holz, Zentimeter für Zentimeter kroch sie weiter, suchte instinktiv nach einem Platz, an dem der Wind nicht wehte. Doch es wurde nicht wärmer, im Gegenteil. Es wurde kälter. Warum?
Unsichtbare Lider hoben sich. Warum?
Flackerndes Licht. Laute Stimmen. Ein starrer, eisiger Duft. Raue Borke. Der süße Geschmack von Nektar. Die Eindrücke fielen urplötzlich wie ein schweres Gewicht auf das Haupt der Pflanze und drohten ihren Schädel bersten zu lassen. Woher kamen all diese Gefühle nur? Fünf Sinne gleichzeitig, die unermüdlich die Welt untersuchten, forschten und erkundeten, und alle Informationen in nur ein Hirn zu stecken versuchten – wie hielt man das nur aus?!
Die Ranken wurden unruhig. Nervös kratzten sie über das Holz, unkontrolliert, verletzt. Das Holz schmerzte, kleine Spreißel schnitten durch grünes Fleisch. Es floss nicht einmal Blut, doch allein diese Berührung, diese raue, harte Berührung… sie übertraf alles. Der Duft des Waldes verblasste, das flackernde Licht verschwand in der Dunkelheit, und die Geräusche um das erwachte Wesen wurden leiser und leiser, und verstummten schließlich vollends.
Übrig blieb nur noch das Gefühl von Haut auf Haut, grün auf braun, glatt auf rau. Es war so seltsam, tat weh, und doch klammerten sich alle Ranken ängstlich und schutzsuchend, so fest es nur ging, um den mächtigen Stamm der Tanne. Dann, ein Gedanke: So war es schon immer gewesen. Sie war da, noch bevor es gekommen war. Dieser große, mächtige Baum, der unbezwingbar seine Äste in die Höhe streckte, und dabei dem kleinen Setzling unter seinen Fittichen ein Dach erschuf.
Plötzlich langsam und liebevoll streichelte eine dünne Ranke über die knorrige Borke. Eigentlich war sie gar nicht so rau.
Zaghaft öffnete die Pflanze noch einmal die Augen und schaute hoch. Dunkelbraune Rinde lag unter ihrem Blick und reckte sich nach oben, wo bald dünne Zweige mit spitzen Nadeln ein endloses, dunkles Netz aufspannten. So viele Äste, so viel Grün… wie konnte sich dieser große Baum da nur aufrecht halten? Aufrecht, entgegen diesem Druck, der einen stetig nach unten ziehen wollte. Diese Kraft… ja, deshalb klammerte es sich überhaupt an die Tanne. Wegen der Kraft, die nach unten ging.
Neugier ergriff es. Wenn die große Tanne es schaffte, der Kraft ein ganzes Netz entgegenzusetzen, konnte es sich dann auch ohne sie der Kraft widersetzen? Ja, vielleicht… einen Versuch war es sicherlich wert. Ein Versuch würde es zeigen.
Vorsichtig löste sich eine der Ranken vom Stamm der Tanne. Wehmütig verabschiedete sich die Kreatur von der rauen Haut, und begrüßte widerwillig die Haltlosigkeit des brausenden Windes. Die eigene Gliedmaße wog schwer ohne Stütze, wollte einfach nur nach unten. Es erforderte Kraft, sie oben zu halten. Wenn diese eine zu halten schon so schwierig war, wie sollte es dann mit dem Rest gelingen? Und wie viele Ranken hatte das Geschöpf überhaupt?
Mit zuckenden Bewegungen konzentrierte es sich auf seinen Körper. Da war eine Ranke, dort noch eine. Lange Wurzeln gab es auch, die unter die Erde reichten. Dann waren da noch zwei Ranken, die weiter oben hingen, sowie das schwere Haupt der Pflanze an einer anderen, von der alles ausging. Am Ende der kleinen vier Ranken gab es auch schmatzende Mäuler, deren zäher Speichel träge über ihre Zungen rollte. Wie es sich wohl anfühlte, auf ihnen etwas anderes zu spüren…
Ein dunkles Grollen, tief im Inneren der Kreatur, ließ sie verwundert zusammenzucken. Was war das? Ein neues Gefühl, ja! Nagend, fordernd, urtümlich… Ein bodenloses Loch, das mit dunkler Stimme darum flehte, gestopft zu werden, obgleich es den Anschein machte als wäre das nicht möglich. Oder doch? Nur wie?
Aah, so viele Fragen, so viele Eindrücke, und so viele Gefühle! Woher kam dies alles nur? Und schon wieder eine Frage… es nahm kein Ende! Würde es niemals ein Ende nehmen?
Und schon wieder!
Das dunkle Loch rumorte noch einmal, bellte nach Erlösung. Die Kreatur musste es stopfen, wollte es stopfen, doch die Frage nach dem Wie blieb noch immer unbeantwortet.
In diesem Moment wirbelte einige Meter weiter ein einziger, schimmernder Blutstropfen durch die Luft.