Aktuelles

Memento Vitae

Livy

Inaktiv
Beiträge
712
Posten
First Guardian
Steckbrief
Link
Teufelsfrucht
Link

Aus den Erinnerungen eines Wesens, für das Erinnerungen nichts Selbstverständliches sind…



Kalt.
Es war nur ein Gefühl, ein einzelnes, simples Gefühl. In diesem Moment bedeutete es jedoch für das Geschöpf, das noch nie zuvor in seinem Leben einen einzigen, klaren Gedanken fassen konnte, einfach alles, denn es war das erste Gefühl, das wie ein heller Blitz Licht in die ewige Dunkelheit seiner Bewusstlosigkeit brachte.
Kalt.
Ein so einfaches Gefühl, und doch brachte es eine unbekannte Saite in dem Wesen zum schwingen, das noch nie verstehen konnte, nie verstehen durfte! Doch jetzt, von einem Moment auf den anderen, war dieses Gefühl da. Und mit ihm waren die Gedanken gekommen. Es dachte. Es war.
Kalt.
Neugierig dachte das erwachte Wesen über dieses Gefühl nach. Kalt… wieso? Das Drumherum… die Luft, sie bewegte sich, schnell, und ließ den Wald singen. Das war es. Wind, kalter Wind, der über grüne Haut streift. Deshalb ist es kalt. Wenn nur etwas den Wind abhalten würde, dann wäre es nicht mehr so kalt. Warm. Warm?
Lahme Glieder kratzten müde über raue Borke. Eine Ranke bewegte sich über Holz, Zentimeter für Zentimeter kroch sie weiter, suchte instinktiv nach einem Platz, an dem der Wind nicht wehte. Doch es wurde nicht wärmer, im Gegenteil. Es wurde kälter. Warum?
Unsichtbare Lider hoben sich. Warum?
Flackerndes Licht. Laute Stimmen. Ein starrer, eisiger Duft. Raue Borke. Der süße Geschmack von Nektar. Die Eindrücke fielen urplötzlich wie ein schweres Gewicht auf das Haupt der Pflanze und drohten ihren Schädel bersten zu lassen. Woher kamen all diese Gefühle nur? Fünf Sinne gleichzeitig, die unermüdlich die Welt untersuchten, forschten und erkundeten, und alle Informationen in nur ein Hirn zu stecken versuchten – wie hielt man das nur aus?!
Die Ranken wurden unruhig. Nervös kratzten sie über das Holz, unkontrolliert, verletzt. Das Holz schmerzte, kleine Spreißel schnitten durch grünes Fleisch. Es floss nicht einmal Blut, doch allein diese Berührung, diese raue, harte Berührung… sie übertraf alles. Der Duft des Waldes verblasste, das flackernde Licht verschwand in der Dunkelheit, und die Geräusche um das erwachte Wesen wurden leiser und leiser, und verstummten schließlich vollends.
Übrig blieb nur noch das Gefühl von Haut auf Haut, grün auf braun, glatt auf rau. Es war so seltsam, tat weh, und doch klammerten sich alle Ranken ängstlich und schutzsuchend, so fest es nur ging, um den mächtigen Stamm der Tanne. Dann, ein Gedanke: So war es schon immer gewesen. Sie war da, noch bevor es gekommen war. Dieser große, mächtige Baum, der unbezwingbar seine Äste in die Höhe streckte, und dabei dem kleinen Setzling unter seinen Fittichen ein Dach erschuf.
Plötzlich langsam und liebevoll streichelte eine dünne Ranke über die knorrige Borke. Eigentlich war sie gar nicht so rau.
Zaghaft öffnete die Pflanze noch einmal die Augen und schaute hoch. Dunkelbraune Rinde lag unter ihrem Blick und reckte sich nach oben, wo bald dünne Zweige mit spitzen Nadeln ein endloses, dunkles Netz aufspannten. So viele Äste, so viel Grün… wie konnte sich dieser große Baum da nur aufrecht halten? Aufrecht, entgegen diesem Druck, der einen stetig nach unten ziehen wollte. Diese Kraft… ja, deshalb klammerte es sich überhaupt an die Tanne. Wegen der Kraft, die nach unten ging.
Neugier ergriff es. Wenn die große Tanne es schaffte, der Kraft ein ganzes Netz entgegenzusetzen, konnte es sich dann auch ohne sie der Kraft widersetzen? Ja, vielleicht… einen Versuch war es sicherlich wert. Ein Versuch würde es zeigen.
Vorsichtig löste sich eine der Ranken vom Stamm der Tanne. Wehmütig verabschiedete sich die Kreatur von der rauen Haut, und begrüßte widerwillig die Haltlosigkeit des brausenden Windes. Die eigene Gliedmaße wog schwer ohne Stütze, wollte einfach nur nach unten. Es erforderte Kraft, sie oben zu halten. Wenn diese eine zu halten schon so schwierig war, wie sollte es dann mit dem Rest gelingen? Und wie viele Ranken hatte das Geschöpf überhaupt?
Mit zuckenden Bewegungen konzentrierte es sich auf seinen Körper. Da war eine Ranke, dort noch eine. Lange Wurzeln gab es auch, die unter die Erde reichten. Dann waren da noch zwei Ranken, die weiter oben hingen, sowie das schwere Haupt der Pflanze an einer anderen, von der alles ausging. Am Ende der kleinen vier Ranken gab es auch schmatzende Mäuler, deren zäher Speichel träge über ihre Zungen rollte. Wie es sich wohl anfühlte, auf ihnen etwas anderes zu spüren…
Ein dunkles Grollen, tief im Inneren der Kreatur, ließ sie verwundert zusammenzucken. Was war das? Ein neues Gefühl, ja! Nagend, fordernd, urtümlich… Ein bodenloses Loch, das mit dunkler Stimme darum flehte, gestopft zu werden, obgleich es den Anschein machte als wäre das nicht möglich. Oder doch? Nur wie?
Aah, so viele Fragen, so viele Eindrücke, und so viele Gefühle! Woher kam dies alles nur? Und schon wieder eine Frage… es nahm kein Ende! Würde es niemals ein Ende nehmen?
Und schon wieder!
Das dunkle Loch rumorte noch einmal, bellte nach Erlösung. Die Kreatur musste es stopfen, wollte es stopfen, doch die Frage nach dem Wie blieb noch immer unbeantwortet.

In diesem Moment wirbelte einige Meter weiter ein einziger, schimmernder Blutstropfen durch die Luft.
 

Livy

Inaktiv
Beiträge
712
Posten
First Guardian
Steckbrief
Link
Teufelsfrucht
Link
Eine einsame, rote Perle. Vom Wind getragen wirbelte sie durch die Luft, fiel schließlich zu Boden, und zersplitterte in zahllose Scherben. Nur langsam sickerte das Blut in die vom Frost steife Erde, ungesehen, unbeachtet.
Nein, nicht ganz. Nur wenige Meter von jenem kleinen, im nächtlichen Zwielicht dunkelbraun schimmernden Fleck entfernt sog das Wesen seinen Duft in sich ein. Es war nur ein einziger, winziger Tropfen Blut, doch diese geringe Menge genügte, um den neugeborenen Verstand der hungrigen Teufelspflanze zu vergiften. Wie zuvor in Konfrontation mit der seltsamen Empfindung Schmerz traten alle anderen Sinne nach und nach in den Hintergrund, und das obwohl das neue Wesen sie gerade erst kennengelernt hatte. Doch was zählte schon das warme Flackern einer orangefarbenen Flamme, was die Berührung kratziger Rinde auf nackter Haut, wenn das Aroma frischen Blutes in der Luft lag und wie ein verspieltes Kind die wilde Bestie neckte, die im eigenen Magen gierig nach Nahrung brüllte?
Nichts.
Willenlos, genau wie all die Jahre bis hin zu dieser schicksalhaften Nacht, streckten sich die großen Ranken des Wesens hungrig dem Blutstropfen entgegen, dessen Duft langsam verflog. Doch halt, dieser kleine Fleck war nicht die einzige Quelle jenes verführerischen Odems, der müßig durch die Schatten schwebte. Doch wo, wo, wo…!
Das Wesen öffnete seine Augen, jedoch nur langsam und zaghaft. Gelbes Licht glitzerte jenseits unsichtbarer Lider, brannte sich in die kleinen Augen, die bis vor wenigen Minuten nichts anderes gekannt hatten als Finsternis. Es schmerzte, doch der Hunger trieb die Pflanze dazu an, mit neugierigem Blick nach dem Blut zu suchen – mit Erfolg. Je länger sie ins Licht starrte, desto klarer zeichneten sich dunkle Konturen ab. Schatten kamen, die das Licht zurückdrängten und zum Teil eines größeren Ganzen werden ließen. Feuer, das aus langen, dunklen Stäben auf dem Boden emporloderte. Sein Schein war hell, doch im Gegensatz zum Rest des Bildes wirkte es klein, kümmerlich und unsicher, wie es verzweifelt knisterte, sich wand und beständig an der Schwärze leckte, ohne sie je verschlingen zu können. Vor allem zwei gesonderte Schatten schienen größer zu sein als alles, was die jungen Flammen je verzehren können mochten: Diese Schatten zuckten vor und zurück, gaben gutturale Töne von sich, und… dufteten. Ja, ihnen haftete der Duft an, nach dem die Pflanze gesucht hatte, nach dem sie sich hemmungslos sehnte, und er war noch dazu so viel stärker als der des kleinen dunklen Flecks!
Automatisch schlug jene Ranke, die das Pflanzenwesen die ganze Zeit über in der Luft hatte schweben lassen, in Richtung der beiden Schatten aus, doch die Bewegung kam zu schnell und war zu unnachgiebig, als dass das Wesen sie hätte ausgleichen können. Ein heftiger Stoß fuhr durch die unerfahrenen Glieder der Pflanze; ein Stoß, dem die anderen gierigen Mäuler nur allzu gern nachgaben. Hungrig gaben sie den festen Stamm frei, um den sie sich geschlungen hatten, und reckten sich in Richtung der tanzenden Schatten. Wenn sie sie nur berühren konnten, dann würde sicherlich dieses drängende, brüllende Gefühl nachlassen… Eine einzige Berührung!
Der ganze Körper der Pflanze strebte mit einem Mal in Richtung des süßen Blutgeschmacks, und die Gier ließ sie fallen. Fortgerissen von der schützenden Tanne konnten weder Hauptranke noch Wurzeln das Gewicht halten, weshalb die Piranhaia der Länge nach zu Boden stürzte. Doch zuerst der Sturz: Ein kurzer Moment purer Hilflosigkeit, ein Aufflammen von Erkenntnis in dem unwissenden Wesen – was hatte es getan? Sein Platz war stets an diesem stärksten aller Bäume gewesen, und jetzt, das erste Mal in seinem Leben, verzichtete es auf diese so notwendige Stütze und schwebte haltlos im Nichts? Die aufkeimende Sorge wurde jedoch vom dumpfen Schmerz des Aufpralls beiseite gefegt, und der unnachgiebige Appetit ersetzte sie daraufhin mehr als bereitwillig. Erneut knurrte er bedrohlich und ließ die Pflanze vergessen, dass sie nun scheinbar ohnmächtig auf der kalten Erde lag. Immer wieder betonte er, dass es im Moment nur eine einzige Sache gab, die zählte: Dass endlich rotes Blut das tobende Biest namens Hunger bändigte.
Ausgestreckt auf dem nackten, eisigen Untergrund zuckten die Glieder der Pflanze unkontrolliert umher. Jedes der fünf Mäuler sog ungeduldig den Duft frischen Lebenssaftes in sich auf, doch so begierig sie auch der vermeintlichen Quelle, den beiden tanzenden Schatten, entgegen strebten, ein Fortschritt blieb aus. Wie blinde Schlangen wanden sich die Ranken umeinander, schleiften rastlos über die harte Erde, und peitschten wütend durch die Luft. Angestachelt durch das Knurren seines Magens warf der Pflanzenteufel seine Gliedmaßen nach rechts und nach links, reckte sie nach oben und schmetterte sie nach unten, doch es half alles nichts. Bis auf ein paar wenige Zentimeter bewegte sich das Gewächs kaum von seinem angestammten Platz unter den behütenden Ästen der großen Tanne fort.
Dabei wurde der eiserne Geruch immer stärker…
Ein feuriges Lodern, das lauter knisterte als das von Dunkelheit umarmte Lagerfeuer, gesellte sich schleichend zu dem finsteren Knurren und breitete sich im Leib der Pflanze aus. Unruhig öffneten sich seine Mäuler und stießen ein heiseres, wütendes Krächzen aus, das jedoch ungehört blieb. Anders vermochte das Wesen seinem aufkeimenden Zorn jedoch nicht Luft zu machen: Unfähig, seine Glieder gezielt zur Fortbewegung zu nutzen, zappelte es ahnungs- und hoffnungslos auf dem winterlichen Waldboden. Nur eine kleine Distanz, einige Meter, kaum der Rede wert, und die zwei Schatten wären greifbar… wieso kam es nicht voran? Wieso konnte das Pflanzenmonster nur daliegen?! Der Hunger wurde stärker und stärker, knurrte, polterte und brüllte wutentbrannt, doch nichts. Die Augen des Pflanzenwesens waren mittlerweile weit aufgerissen, starrten hinüber zu den zwei Schatten, die in schier unglaublicher Ferne miteinander rangen, und sehnten sich nach Frieden und Befreiung – durch Blut. Zornig stieß die Pflanze einen stummen Schrei aus, riss seine Mäuler auf, brüllte nach Erlösung, doch nichts.
Nichts, außer einer einsamen, roten Perle. Vom Wind getragen wirbelte sie durch die Luft, doch diese fiel nicht zu Boden. Stattdessen benetzte sie die grünen Lippen eines hungrigen Monsters, das zum zweiten Mal an diesem Tag eine Wandlung durchlief.
 
Oben