Der Innenraum des kleinen Theaters war einfach atemberaubend. Für einen Schauspieler, der schon die großen Bühnen dieser Welt besucht hatte, mochte der Saal wahrscheinlich nicht mehr als ein heruntergekommener Schuppen sein. Doch für Shien, der bisher nur auf den eigenen Brettern, die die Welt bedeuten, aufgetreten war, war allein die Tatsache, dass er nun auf einer völlig fremden Insel von einem edlen Herren gebeten wurde, auf diese selbige Bühne zu steigen, einfach nur berrauschend. *Er hat mich tatsächlich gebeten... wow... meine Güte, ich bin wirklich beliebt...*
Schwärmend tänzelte Shien hinüber zum Rand der Bühne, wo die kleine Black ihm bereits eine Hand entgegenstreckte, um ihm hochzuhelfen. "Sir", sagte sie mit einem Lächeln, und Shien ergriff grinsend ihre Hand. "Mylady." Vorsichtig setzte er einen Fuß auf den Rand der Bühne und stemmte sich allein mit den Beinen nach oben, um auch ja nicht an der zarten Hand seiner netten Begleitung zu zerren. Als er dann oben stand, blickte er sich in dem kleinen Saal noch einmal um. Ihr ehemaliger Führer, der junge Mann mit den dunklen Haaren, hatte es sich auf einem der Sitzplätze gemütlich gemacht und beobachtete Shien und Jen erwartungsvoll. In letzter Zeit hatte er kaum mehr gesprochen - oder vielleicht hatte es Shien einfach nicht bemerkt? - dennoch verspührte der frischgebackene Piratenkapitän eine seltsame Zuneigung für den Mann. *Er kann kämpfen, ist nicht aufdringlich, und so wie er da sitzt scheint er wirklich an Kunst interessiert zu sein... und das bei einem so jungen Menschen, vorzüglich!* Shien nickte ihm kurz lächelnd zu, dann schweifte sein Blick weiter zu dem Musikus, den er seit ihrem Beisammensein in der "wilden Kirsche" kaum mehr beachtet hatte. *Ein Fehler, ein großer Fehler... dieser Kerl erscheint mir genauso freundlich zu sein, und falls man ihn tatsächlich dazu überreden könnte auf der Dragon anzuheuern wäre das einfach nur famos.* Mit einem leicht unzufriedenen Blick musterte der Musiker gerade seine (aus welchen Gründen auch immer) zertrümmerte Geige und stand direkt neben der Sitzreihe, in der es sich der andere junge Mann gemütlich gemacht hatte. Auch ihm nickte er kurz zu, bevor er sich seiner grünhaarigen begleiterin zuwandte. Ihr Lächeln war einfach zauberhaft, und all ihre Bewegungen ließen auf unglaubliche Grazie und Körperbeherrschung schließen. *Außerdem scheint sie ein überraschendes Talent dafür zu besitzen, zu verschwinden...*
Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck stemmte Shien die Hände in die Hüften und ließ seine Stimme durch den Raum donnern. "Und nun, meine Damen...", er deutete eine knappe Verbeugung in Richtung Jennifer an, "...und meine Herren! Ich darf sie herzlich zu der Uraufführung von... hmm, von was eigentlich?" Fragend blickte Shien in die Runde. Das Improvisieren lag ihm zwar genauso im Blut wie das Spielen nach einem festen Stück, dennoch wollte er, sollte das Publikum einen Wunsch haben, unbedingt auf diesen eingehen. "Was würdet ihr denn gerne sehen? Habt ihr einen bestimmten Wunsch? Herr Spülberg, was ist mit ihnen?" Shien ließ seinen Blick noch einmal durch den raum schwiefen, dann nochmal und nochmal, doch die gedrungene Gestalt Spülbergs war nirgendwo zu entdecken. "Herr Spülberg, wo sind sie?"
In diesem Moment ertönte jenseits der großen Flügeltüre, durch die die Gruppe den Theatersaal betreten hatte, ein lautes Krachen. *Was...?*
*klapp*
Völlig unvermittelt klappte unter Jennifer und Shien die Bühne auf und ließ sie hilflos in der Luft hängend zurück. Der Fall dauerte nicht lange, es waren vielleicht zwei oder drei Meter, dennoch war er unheimlich schmerzhaft. Shien landete "behände" auf seinem Hintern, stand, nachdem der erste Schock überwunden war, auf, und blickte nach oben. *Was soll das denn jetzt? Solche Tricks sind ja schön und gut, aber dem Hauptdarsteller nichts davon zu sagen ist einfach schändlich!!* Ein paar Meter über sich erkannte Shien das zwei mal zwei Meter große, quadratische Loch, durch dass er und Jennifer gerade gefallen waren, jenseits davon lag noch immer unberührt der Rest der Bühne. Apropos Begleitung... Hastig drehte er sich zur Seite und suchte den Boden nach der jungen Black ab. "Miss, ist ihnen etwas passiert? Haben sie sich verletzt? Wo sind sie?" Um ihn herum war es bis auf die kleine Stelle, auf die durch das Loch in der Decke Licht fiel, stockfinster.
Ein lautes Knacken ertönte, und durch mehrere Lautsprecher, die in dem Theater angebracht waren, drang das verzerrte, kehlige Lachen Spülbergs. "Hahahahahahaha, HAHAHAHAHA! Dass es so leicht wird hätte ich nicht gedacht! Ich hätte nie geglaubt, dass du tatsächlich so naiv sein würdest, hätte ich es nicht selbst miterlebt!" Shien straffte sich. Naiv? Er konnte doch nicht ihn meinen! ...oder? Mit grimmiger Miene schrie der Schwarze laut: "Spülberg! Was soll das?! Was ist das für ihn jämmerliches Possenspiel?!" Offenbar hörte der Zwerg seinen Gefangenen jedoch nicht, denn seine Stimme fuhr unvermittelt fort: "Alle haben sie mir gesagt du seist ein Idiot, einer dieser lächerlichen 'künstlerischen Freigeister'... aber das war wirklich viel, viel zu einfach. Selbst diese Witzfiguren, die dich begleitet haben, Kagayaki Shien, haben nichts bemerkt! Was für eine dämliche Bande!"
Shien merkte auf. *Kagayaki... Shien?* Erneut ertönte das schiefe Lachen des Betrügers. "Wieviel das ach so reiche Ehepaar Kagayaki wohl für das Leben seines einzigen Kindes hinblättern wird? 100.000 Berry? 500.000 Berry? 2.000.000 Berry? Oder werden es am Ende doch runde 100 Millionen? Hahahahahahahaha! So viel Geld für einen Waschlappen wie dich, das ist wirklich witzig!" Shiens Hände ballten sich zu Fäusten. *Er will also meine Eltern erpressen... mit mir...* Noch einmal versuchte er die Ohren seines Entführers zu erreichen: "Spülberg! Hören sie zu! Sie werden niemals damit durchkommen! Oder glauben sie ernsthaft, dass meine Eltern auch nur einen müden Berry für mich locker machen würden?"
Tatsächlich bezweifelte Shien, dass seine Eltern Geld für seine Freiheit zahlen würden. So selten wie sie ihn in den vergangenen Jahren besucht hatten war es sogar möglich, dass sie schon komplett den kleinen Jungen vergessen hatten, der seine ganze Kindheit lang nur einen Wunsch hatte: Vons einen Eltern geliebt und beachtet zu werden.
Spülberg hörte allerdings noch immer nichts. "Es tut mir nur Leid um deine kleinen Anhängsel... sitzen wie Ratten in der Falle, und das nur, weil sie einem Irren gefolgt sind. Wo wir gerade bei der Falle sind: Versucht nicht, zu fliehen, verstanden? Die Flügeltür ist mit einem soliden Eisenbalken verriegelt, die werdet ihr selbst zu viert nicht aufbekommen. Ihr könntet natürlich versuchen, die Tür unten im Keller aufzubekommen, die ist lediglich mit einem festen Eisenschloss abgesperrt... allerdings werdet ihr euch dann mit Sicherheit in den labyrinthartigen Korridoren verlaufen, und ich habe ehrlich gesagt keine Lust, eure verhungerten Leichen dort unten raus schaffen zu müssen!"
Erneut erönte ein Knacken und Spülbergs Stimme erstarb. Kein einziger Lau drang mehr durch die Lautsprecher. Shien, schwankend zwischen Trauer und Wut, Verzweiflung und Tatendrang, ließ sich auf die Knie sinken. *Wer hätte gedacht, dass meine Karriere als Piratenkapitän schon heute zu Ende gehen würde...*