Sie fühlte sich nicht wohl, spürte das Frühstück in ihrer Magengegend, das ein letztes Mal die Sonne sehen wollte und dabei lieber den Weg nach oben als nach unten nahm, hatte einen Schwindelanfall nach dem nächsten und sah mit schwerem Herzen das Schiff ihres Vaters aus dem Hafen auslaufen. Dennoch weinte sie nicht, verzog das hübsche, junge Gesicht nicht zu einer Grimasse, sondern wartete lächelnd darauf, dass Vater und Mutter von der Reling verschwanden. Doch wartete die junge Frau mit dem kurz geschnittenen, grünschwarzen Haar nicht darauf, dass die weißen Segel, die zu einem Schiff gehörten, dass das Meer bereiste so lange es die Sippe der Blacks gab, am Horizont verschwanden. Ja, am Horizont. Dort wo die Sonne bereits unterzugehen drohte und Anstalten machte erst am nächsten Morgen wieder aufzutauchen. Als die junge Black merkte, dass sie die Tränen gar nicht zurückhalten musste, da es keine derartigen gab, lachte sie der Sonne entgegen und drehte sich dann fröhlich im Kreis, ihre Tasche, die sie quer um die Brust gebunden hatte mit sich schwingend. Doch gleich darauf hielt sie sich die Hand vor den Mund und ihre eigenartig gefärbten, grünen Augen blinzelten erschrocken. „Da bleiben, bitte, bitte da bleiben!“, flehte sie ihr Frühstück innerlich an und kämpfte gegen das übliche Landkrankheitsgefühl an.
Vergeblich.
Nachdem sie wieder hinter den Kisten hervorgekommen war, zwischen denen ihr Frühstück nun erfolgreich beerdigt war, seufzte sie und schüttelte sich vor lauter Ekel. „Wenigstens geht’s mir jetzt besser“, dachte sie optimistisch und sah sich zuversichtlich nickend im Hafen um. „Keines dieser Schiffe sieht aus, wie das einer Piratenbande“, dachte sie schmollend und seufzte. Offenbar war ihr Optimismus Luxus, den sie sich nicht erlauben durfte. „Vielleicht läuft ja doch noch ein Schiff ein… irgendwann, bald…“, dachte sie sich zuversichtlich und nickte in sich hinein. „Ohne Spekulation, keine neue Beobachtung!“, sagte sie sich grinsend und verschränkte sie nackten Arme vor der Brust. Ein enges, tiefgrünes Top hatte sie sich wie eine zweite Haut angezogen und ein Paar Bluejeans schmückten ihre Beine. Doch an den Füßen trug sie nichts… Ja, sie ging barfuß, ihre Ballerinas pendelten an den Schnallen ihrer Tasche hin und her, wo das Mädchen sie mit den Schnürsenkeln festgebunden hatte. Ohnehin schien sie recht viel mit sich herum zu schleppen, so als hätte sie eine lange Reise vor sich. An ihrem Gürtel steckten ein in Gold gefasstes Fernglas, zwei Schlagringe und ein Kompass und auch die Tasche an ihrer rechten Seite war prall gefüllt… Wahrhaft ein merkwürdiges Mädchen, das da so gottverlassen im Hafen stand und allen Ernstes die nicht vertreibbare Absicht hatte auf ein einlaufendes Schiff zu warten.
Besonders viel sah man vom Hafen aus nicht von der Stadt, doch was man sah, das sah sehr vielversprechend aus, auch wenn Jenny nirgends Blumen erblicken konnte. Und das obwohl es Frühling war! „Ich liebe… diese Jahreszeit“, dachte sie melancholisch gestimmt und lächelte vor sich hin. Offenbar war das Mädchen dauerhaft fröhlich… Die Stadt sparte offenbar nicht an Gold, an Verzierungen und überflüssigen Denkmälern aus Marmor und anderen, kostspieligen Steinen. Alles in allem sah das, was sie von der gigantischen Insel sah, recht üppig, nahezu übertrieben und um es mit einem Wort zu beschreiben einfach nur „teuer“ aus. Kopfschüttelnd grinste Jenny, denn unter den Fischern und Händlern sah sie auch Bettler, Arme, Greise, Krüppel… und denen ging es dem Aussehen nach einfach nur (um es mit einem Wort zu beschreiben): „Dreckig“.
Nach wenigen Minuten hatte sich das kurios aussehende Mädchen auf eine der Kisten im Hafen gesetzt, in der vermutlich Fischernetze oder ähnliches gelagert wurden. Um sie herum herrschte reges Treiben und sie bewunderte den einfach wunderschön anzusehenden Hafen. Sie hatte ein Auge für gute Kunst, keine Frage. Auf den Reisen mit der Blackwing hatte sie nahezu jeden Hafen in Erinnerung behalten, viele Schiffe gezeichnet (und manch eines geklaut). Doch zum Zeichnen hatte sie nichts dabei und als sie eben dies feststellte, schnitt sie eine Grimasse. „Na herrlich… womit beschäftige ich mich denn jetzt?“, fragte sie sich geradezu verzweifelt und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Doch bei eben dieser Bewegung bemerkte sie die Blumen in ihrem Haar und sie stockte. Sie welkten. „Oh je“, stellte sie fest. Als sie sich umsah erblickte sie jedoch weit und breit kein Blumenbeet, mit dessen Hilfe sie die welken Lilien in ihrem Haar auffrischen könnte, weshalb sie einfach nur ein wenig depressiv vor sich hin starrte und sich Gedanken machte. „Was, wenn ich kein Schiff finde, das mich mitnimmt? Was wenn ich hier verhungere?“, waren die Gedanken, die sie am meisten schockierten. Unterdessen trommelte sie mit den Fingern auf die Kiste und sah ab und zu den Fischern und Kaufleuten dabei zu, wie sie reichlich viel redeten und die Kleine größtenteils gar nicht beachteten. Und wenn sie beachtet wurde, dann nur flüchtig. Lange aufhalten würde sich an ihrem Anblick ohnehin niemand. Dennoch würde sie so lange hier warten, bis ein Schiff in den Hafen einlief, das wenigstens ein bisschen vielversprechend aussah!
Ein bisschen vielversprechend, hatte sie gesagt. Doch mit den Stunden schwand auch dieser Anspruch und aus dem „bisschen vielversprechend“ wurde ein Wunschtraum. „Eine Baracke mit Piratenflagge würde ja schon rei-„, doch dann zuckte Jennifer plötzlich zusammen, als ein Schiff keine zwanzig Meter von ihr entfernt anlegte. „Hyayayayayayaya!“, brüllte jemand und erneut zuckte das geräuschempfindliche Mädchen zusammen. Dann sprang sie auf, denn die Gitarrentöne lockten sie an, doch gleich darauf wurde ihr klar, dass diese Idee nicht ihre beste gewesen war. Augenblicklich drehte sich ihr Magen um und sie war froh, dass nichts mehr drin war, was rauskommen könnte… Zunächst taumelte sie ein wenig, doch dann stolperte sie hastig zu dem Schiff und sah es mit staunendem Gesichtsausdruck an. „Wunderschön“, murmelte sie und sah dann, dass der offensichtliche Kapitän des Schiffes von einem Musikanten begleitet an ihr vorbei marschierte. Jennifer lächelte belustigt und wirkte dabei erstaunlich … stolz. Der Stolz, der von einem so jungen Mädchen ausging, war gigantisch. Doch diese Aura, die sie umgab, wirkte nicht übertrieben oder gar protzig… nein, Jennifers Stolz wirkte berechtigt. Sie hatte einen Grund für ihren Stolz und spielte ihn nicht aus, wodurch sie nahezu bescheiden dastand. Sie protzte nicht mit ihrem Namen oder ihren Fähigkeiten, sie war einfach sie selbst und genau das verursachte den Stolz, der von ihr ausging. Er gehörte einfach zu ihr und man bemerkte ihn sofort, wenn man sie sah… doch offenbar SAH der Weißhaarige sie gar nicht, also wandte sie ihren Blick von dem Schiff ab und ging einfach hinter dem Kapitän her um herauszufinden, was seine Absicht war. Dabei schritt sie hinter dem Musikanten her, sodass der Weißhaarige sie nur nach genauerem Hinschauen würde sehen können… „Oha, der scheint ja gut gelaunt“, bemerkte Jenny dabei amüsiert.